Rückblick contra Vision
Unterschiedlicher können zwei Sachbücher über Lateinamerika kaum sein: Das erste ("Lateinamerikanische Geschichte") beschreibt das Vergangene, das zweite ("Politik der Eigenständigkeit") eine Vision. Hier Rückblick, dort Ausblick also, doch so einfach sind die Dinge nicht. Denn die Darstellung des Abgeschlossenen wirkt recht modern, die Utopie hingegen wie von gestern.
Norbert Rehrmann, Professor an der Technischen Universität Dresden, liefert mit seiner "Lateinamerikanischen Geschichte" eine kompakte Übersicht für Einsteiger und Kenner. Der Band biete "nichts eigentlich Neues", meint der Autor. Schon wahr. Nur: Wie Rehrmann auf knappem Raum die Vergangenheit lebendig werden lässt, verdient Anerkennung. Sein Taschenbuch ist Nachschlagewerk und provozierender Essay, ein anregender Spaziergang durch tausend Jahre Historie.
Unsere Vorstellung von Südamerika skizziert der Autor mit einem Bloch-Zitat als "Traumarsenal geographischer Märchen". Die Ruinen der Azteken, Mayas, Inkas deutet er als "Fortschrittssymbole", die Folgen von Kolumbus' "Entdeckung" als "erste Globalisierung". Später beschreibt er die "Kolonisierung der Seelen" und die "Stunde der Tyrannen" im 19. wie 20. Jahrhundert. Norbert Rehrmann wollte eine "Grundorientierung im Gestrüpp der Geschichte" liefern; das ist ihm gelungen, auf kurzweilige Art.
Das zweite Buch - "Politik der Eigenständigkeit" – verheißt Unglaubliches: ein Patentrezept zur Rettung der Erde. Als einer der Herausgeber zeichnet "LATAUTONOMY".
LATAUTONOMY (das Kunstwort meint "Autonomie in Lateinamerika") ist ein Konsortium von zwölf Instituten aus Europa und Übersee. Gegründet wurde es für ein EU-finanziertes, von 2001 bis 2005 realisiertes Forschungsprojekt. Der Sammelband, in fünf Sprachen publiziert, fasst nun die Ergebnisse zusammen.
Untersucht wurden Autonomieprozesse in "indigenen", also indianischen Gemeinschaften mehrerer Länder, zum Beispiel in Nicaragua, Mexiko, Ecuador. Die zentrale Hypothese lautete: "Multikulturelle Autonomien in Lateinamerika: eine notwendige Bedingung für die nachhaltige Entwicklung". Das erwünschte Ergebnis war in der Formulierung bereits vorweggenommen. Auch die Buchtexte zeugen weniger von Wissenschaftlichkeit als von ideologisch geprägtem Wunschdenken. Man wolle, heißt es, ein "neues politisches Paradigma" ausloten und dazu beitragen, "die von den großen Bevölkerungsmehrheiten der Welt ersehnten soziopolitischen Veränderungen vorzubereiten".
Derart eingestimmt, hören wir überholte, weil nicht mehr legitimierte Forderungen, etwa auf "Erlass der Auslandsschulden für alle Entwicklungsländer"; wir sehen Losungen ("Logik des Widerstands", "Von der Armut zur Selbsthilfe"), griffige Formeln ("Nachhaltigkeit = Politik + Kultur + Wirtschaft") und rhetorische Gespenster (etwa "die um ihre Befreiung kämpfenden Völker"). Was wir nicht finden, sind Beweise.
Die bitteren Erfahrungen kleiner Leute mit den Weltverbesserern in Nicaragua, Kuba und anderswo, die Wechselwirkung von Guerilla und Terrorismus, die Hybris machtbewusster Indioführer oder die bis heute verhängnisvolle Rolle der Kirche als Zerstörerin traditioneller Kulturen – all das bleibt ausgeklammert.
Zwei Bücher, zwei Stoffe, und unterschiedlich ist auch die Art der Darbietung: Der Professor aus Dresden rafft und strafft (wenige Exempel - Brasilien, Argentinien, Mexiko - stehen fürs Ganze); die Urheber des Sammelbands zeigen sich eher geschwätzig. Der Historiker schreibt ein frisches, pointiertes Deutsch; bei LATAUTONOMY treffen wir auf das formelhafte "Neusprech" (BürgerInnen) der linken und alternativ bewegten Szene, jenen "gedrillten Sachlichkeitsjargon", den Norbert Rehrmann verspottet. Auch das geschichtliche Halbwissen dürfte den Hochschullehrer verärgern: Die Kichwa-Indios Ecuadors hätten heute "das Erbe des Inka Reichs angetreten", meint eine LATAUTONOMY-Autorin. Sie irrt. Die bitterarmen Kleinbauern der Anden waren auch zu Inka-Zeiten rechtlose Untertanen einer fernen, fremden Obrigkeit.
Norbert Rehrmann: Lateinamerikanische Geschichte. Kultur, Politik, Wirtschaft im Überblick
rororo Originalausgabe, Rowohlt Taschenbuchverlag 2005
320 Seiten, 14,90 Euro
Leo Gabriel, LATAUTONOMY (Hg.): Politik der Eigenständigkeit. Lateinamerikanische Vorschläge für eine andere Welt
Mandelbaum Verlag, Wien 2005
440 Seiten, 15,80 Euro
Unsere Vorstellung von Südamerika skizziert der Autor mit einem Bloch-Zitat als "Traumarsenal geographischer Märchen". Die Ruinen der Azteken, Mayas, Inkas deutet er als "Fortschrittssymbole", die Folgen von Kolumbus' "Entdeckung" als "erste Globalisierung". Später beschreibt er die "Kolonisierung der Seelen" und die "Stunde der Tyrannen" im 19. wie 20. Jahrhundert. Norbert Rehrmann wollte eine "Grundorientierung im Gestrüpp der Geschichte" liefern; das ist ihm gelungen, auf kurzweilige Art.
Das zweite Buch - "Politik der Eigenständigkeit" – verheißt Unglaubliches: ein Patentrezept zur Rettung der Erde. Als einer der Herausgeber zeichnet "LATAUTONOMY".
LATAUTONOMY (das Kunstwort meint "Autonomie in Lateinamerika") ist ein Konsortium von zwölf Instituten aus Europa und Übersee. Gegründet wurde es für ein EU-finanziertes, von 2001 bis 2005 realisiertes Forschungsprojekt. Der Sammelband, in fünf Sprachen publiziert, fasst nun die Ergebnisse zusammen.
Untersucht wurden Autonomieprozesse in "indigenen", also indianischen Gemeinschaften mehrerer Länder, zum Beispiel in Nicaragua, Mexiko, Ecuador. Die zentrale Hypothese lautete: "Multikulturelle Autonomien in Lateinamerika: eine notwendige Bedingung für die nachhaltige Entwicklung". Das erwünschte Ergebnis war in der Formulierung bereits vorweggenommen. Auch die Buchtexte zeugen weniger von Wissenschaftlichkeit als von ideologisch geprägtem Wunschdenken. Man wolle, heißt es, ein "neues politisches Paradigma" ausloten und dazu beitragen, "die von den großen Bevölkerungsmehrheiten der Welt ersehnten soziopolitischen Veränderungen vorzubereiten".
Derart eingestimmt, hören wir überholte, weil nicht mehr legitimierte Forderungen, etwa auf "Erlass der Auslandsschulden für alle Entwicklungsländer"; wir sehen Losungen ("Logik des Widerstands", "Von der Armut zur Selbsthilfe"), griffige Formeln ("Nachhaltigkeit = Politik + Kultur + Wirtschaft") und rhetorische Gespenster (etwa "die um ihre Befreiung kämpfenden Völker"). Was wir nicht finden, sind Beweise.
Die bitteren Erfahrungen kleiner Leute mit den Weltverbesserern in Nicaragua, Kuba und anderswo, die Wechselwirkung von Guerilla und Terrorismus, die Hybris machtbewusster Indioführer oder die bis heute verhängnisvolle Rolle der Kirche als Zerstörerin traditioneller Kulturen – all das bleibt ausgeklammert.
Zwei Bücher, zwei Stoffe, und unterschiedlich ist auch die Art der Darbietung: Der Professor aus Dresden rafft und strafft (wenige Exempel - Brasilien, Argentinien, Mexiko - stehen fürs Ganze); die Urheber des Sammelbands zeigen sich eher geschwätzig. Der Historiker schreibt ein frisches, pointiertes Deutsch; bei LATAUTONOMY treffen wir auf das formelhafte "Neusprech" (BürgerInnen) der linken und alternativ bewegten Szene, jenen "gedrillten Sachlichkeitsjargon", den Norbert Rehrmann verspottet. Auch das geschichtliche Halbwissen dürfte den Hochschullehrer verärgern: Die Kichwa-Indios Ecuadors hätten heute "das Erbe des Inka Reichs angetreten", meint eine LATAUTONOMY-Autorin. Sie irrt. Die bitterarmen Kleinbauern der Anden waren auch zu Inka-Zeiten rechtlose Untertanen einer fernen, fremden Obrigkeit.
Norbert Rehrmann: Lateinamerikanische Geschichte. Kultur, Politik, Wirtschaft im Überblick
rororo Originalausgabe, Rowohlt Taschenbuchverlag 2005
320 Seiten, 14,90 Euro
Leo Gabriel, LATAUTONOMY (Hg.): Politik der Eigenständigkeit. Lateinamerikanische Vorschläge für eine andere Welt
Mandelbaum Verlag, Wien 2005
440 Seiten, 15,80 Euro