Rückbau des AKW Ignalina in Litauen

Atomstadt muss sich neu erfinden

22:03 Minuten
Ein Ingenieur steht im Kontrollraum des Atomkraftwerks in Visaginas vor leuchtenden Kontrollpaneelen.
Adieu AKW: Die Mitarbeiter, die heute noch im Kernkraftwerk Ignalina beschäftigt sind, arbeiten an dessen Rückbau. © Picture Alliance / AP Photo / Mindaugas Kulbis
Von Berthold Forssman und Martin Sander · 11.11.2019
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Ignalina sollte das größte Atomkraftwerk der Sowjetunion werden. Eine ganze Stadt wurde dafür aus dem Boden gestampft: Visaginas. Vor zehn Jahren ging das AKW vom Netz. Nun sucht die Region eine neue Zukunft.
Eine breite, kaum befahrene Asphaltstraße führt aus Visaginas im Nordosten Litauens zehn Kilometer durch Kiefernwälder, vorbei an Hochspannungsmasten und dem Drūkšiai-See, dessen Ostufer schon zu Weißrussland gehört. An einem Abzweig erhebt sich ein Monument aus Beton mit der Inschrift "Atomkraftwerk Ignalina". Das Kraftwerk wirkt wie eine heruntergekommene Fabrik mit rotweißen Schornsteinen, umgeben von rostigen Zäunen. Seit zehn Jahren findet hier keine Kernspaltung mehr statt, wird kein Strom mehr produziert. Aber es wird immer noch gearbeitet. Knapp 2000 Menschen sind mit dem Rückbau des AKW beschäftigt. Noch gibt es die alte Wendeschleife für die Betriebsbusse aus der Stadt. Heute kommen die meisten Mitarbeiter aber mit dem eigenen Auto - der große Parkplatz ist voll.

Ein Atomkraftwerk wird in Container verpackt

Das Foyer erinnert an die Abflughalle eines alten Provinzflughafens. Vor der Personenkontrolle wird die Seriennummer jedes technischen Geräts überprüft, auch des Mobiltelefons. Geschäftsführer Audrius Kamienas empfängt uns im holzvertäfelten Saal der Direktion vor dem Gemälde eines mittelalterlichen litauischen Wasserschlosses. Die aktuelle Lage im Kraftwerk schildert er so:
"Rund ein Drittel aller Anlagen haben wir bereits abgebaut. Ein Großteil der Infrastruktur, die wir für die Lagerung und Sicherung der atomaren Abfälle benötigen, ist vorbereitet. Derzeit sortieren wir den Kernbrennstoff, packen ihn in Container und bringen ihn in ein Lager, das wir 2017 in Betrieb genommen haben – ungefähr ein Kilometer von dem Tisch entfernt, an dem wir gerade sitzen. Unser Plan sieht vor, dass wir den abgebrannten Kernbrennstoff bis 2022 vollkommen entfernt und das Kernkraftwerk bis 2038 endgültig abgebaut haben."

"Die Stillegung war Bedingung für Litauens EU-Beitritt"

Als wir allgemeine und spezielle Fragen zur Sicherheit stellen, lehnt sich Kamienas im engen blauen Anzug betont entspannt zurück. Leiser Spott huscht über sein Gesicht. Solche Fragen kennt man hier nur allzu gut. Die Antworten fallen dennoch vorsichtig aus, diplomatisch:
"Das Kraftwerk wurde stillgelegt, weil das die Bedingung für den Beitritt Litauens zur Europäischen Union war. Das war der einzige Grund. Europa machte sich Sorgen wegen des Reaktortyps und des Zwischenfalls in Tschernobyl. Wie schon hundert Mal gesagt, der Grund für die Stilllegung war allen klar. Als Bürger würde ich sagen, das war ein schwerer wirtschaftlicher Schlag für uns. Aber es gab diese politische Entscheidung. Litauen hat dafür von Europa eine Kompensation erhalten. Die EU hat sich verpflichtet, die Abwicklung zu finanzieren, und wir führen sie durch."
Außenansicht des Atomkraftwerks Visaginas mit seiner Betonfassade und zwei Reaktortürmen.
Kein Anlass zur Sorge? - Das Atomkraftwerk in Visaginas ähnelt in Aufbau und Funktionsweise dem havarierten AKW Tschernobyl.© Picture Alliance / AP Photo / Mindaugas Kulbis
Für den Betrieb des Atomkraftwerks stampften sowjetische Planer in den 1970er Jahren eine ganze Stadt in den litauischen Wäldern aus dem Boden: Visaginas. Hier lebten einmal über 32.000 Menschen aus allen Teilen der Sowjetunion, mehr als 5.000 von ihnen arbeiteten im Kraftwerk. Es hätten noch mehr werden sollen. Geplant war das AKW Ignalina als größtes Kernkraftwerk der UdSSR – mit vier graphitmoderierten Reaktoren vom Typ Tschernobyl.

Der Fall des Eisernen Vorhangs bringt das Projekt zum Erliegen

Nur zwei Blöcke gingen in den 80er Jahren ans Netz, dann kam das Projekt zum Erliegen: durch technische Probleme, Geldmangel und den Zerfall der Sowjetunion. Als das unabhängige Litauen 2004 der EU beitreten wollte, machte Brüssel dann die komplette Schließung des Kernkraftwerks zur Bedingung – es wurde als unsicher eingestuft. Am 31. Dezember 2009 ging das AKW Ignalina endgültig vom Netz. Für die Bürger von Visaginas kam das einer Katastrophe gleich, erinnert sich Dalia Sargūnienė:
"Na klar, da ging es um die Arbeitsplätze und so. Es hieß sogar schon, Visaginas sei eine sterbende Stadt. Aber sie hat sich wieder erholt. Es gibt heute neue Unternehmen für Medizinbedarf, Möbel und Textilien. Und es stehen uns alle möglichen Dienstleistungen zur Verfügung: Schulen, Kindergärten, ein Krankenhaus, Bibliotheken – was man so braucht. Ich habe immer an die Zukunft von Visaginas geglaubt. Es kann doch nicht sein, dass man so ein schönes Eckchen einfach aufgibt."
Sargūnienė, eine kleine, lebensfrohe und energische Frau Anfang 60, leitet eine Bibliothek im Erdgeschoss eines Plattenbaus, an dem der Zahn der Zeit kräftig genagt hat. "Ich bin nach dem Studium nach Visaginas gekommen", erzählt sie. "Damals mussten sich die Absolventen verpflichten, drei Jahre lang an einem Ort zu arbeiten, den man ihnen zuwies. So kam ich hierher zu dieser öffentlichen Bücherei. In Visaginas habe ich meinen Mann kennengelernt, der im Atomkraftwerk arbeitete. Wir haben geheiratet, eine Familie gegründet und eine Wohnung bekommen. Seitdem lebe ich hier."

"Die Stadt war kontrolliert vom KGB"

Sargūnienė gehört nicht nur zu den Alteingesessenen, sondern zugleich zur Kulturszene der Stadt. Und so kennt sie auch Algirdas Kavaliauskas, eine lokale Berühmtheit. Kavaliauskas hat mehrere Bücher über die Geschichte und den Alltag von Visaginas geschrieben. "Die Stadt schien mir damals in den achtziger Jahren schön, ordentlich und aufgeräumt", erinnert er sich. "Sie war besser organisiert und finanziell ausgestattet als andere litauische Städte. Auch die Versorgung war viel besser. In der Kosmos-Straße gab es viele Geschäfte. Bekannte meiner Frau kamen extra hierher, um zum Beispiel Aal zu kaufen. Dabei war es vor der Unabhängigkeit Litauens schwer, nach Visaginas zu kommen, denn es war eine geschlossene Stadt, kontrolliert vom KGB. Als Litauen dann seine Unabhängigkeit erklärte, wandten sich die Arbeiter und die Leiter des AKW an Gorbatschow und verlangten, Moskau solle Visaginas direkt verwalten."
Ansicht einer von Plattenbauten gerahmten Straße mit Blumenbeeten in Visaginas.
Kontrolliert und aufgeräumt: In den 1980er Jahren war Visaginas finanziell und infrastrukturell wesentlich besser organisiert als andere litauische Städte.© Berthold Forssman
Doch es kam anders. Litauen bekam seine Unabhängigkeit und übernahm somit auch die Regie über das Atomkraftwerk. Dass der Preis für die Westintegration im Verzicht auf den Atomstrom bestand, wurde bald klar – und ärgerte manchen Politiker. Romas Švedas war während der Verhandlungen mit der EU Vizeminister für Energiefragen. Bis heute hält er den Verzicht auf die Kernenergie für einen Fehler

Mit Atomkraft war Litauen unabhängiger von Russland

"Die Haltung der litauischen Gesellschaft gegenüber der Atomkraft war im Prinzip positiv", sagt Švedas, "weil das AKW Ignalina etwa 70 Prozent des litauischen Stroms erzeugte. Ohne diesen Strom war Litauen stark vom russischen Erdgas abhängig. Die Atomkraft bot uns eine Alternative. Deshalb war die Gesellschaft dafür. Wir waren der Meinung, dass es keinen Grund gebe, unser Kernkraftwerk zu schließen. Denn wir hatten eine andere Sicherheitskultur als Russland oder die Ukraine. Das Unglück in Tschernobyl resultierte aus mehrfachem menschlichem Versagen. Und wir sagten: Bei uns ist es anders. Wir luden auch Experten aus Schweden ein, wo es ja viele AKWs gibt. Die schwedische Regierung half uns mit Geld, das Kraftwerk noch sicherer zu machen, und die internationale Atomenergiebehörde stufte das AKW Ignalina als absolut sicher ein. Der Wunsch der EU war ein politischer, kein sachlicher."
Obwohl Romas Švedas die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft Litauens höher schätzt als den Nutzen der Kernenergie, fällt es ihm und anderen Anhängern der Atomkraft nach wie vor schwer, sich mit den Folgen des von Brüssel erzwungenen Ausstiegs abzufinden. "Stellen Sie sich mal vor, in Deutschland heißt es: Morgen steigen die Strompreise um 30 Prozent", sagt er. "Dabei macht Strom in Deutschland noch einen geringeren Teil im Warenkorb aus als in Litauen. Der Atomausstieg hat sich hier direkt auf die Menschen ausgewirkt. Der zweite Punkt: Es wurde eine energiepolitische Abhängigkeit von Russland geschaffen. Gazprom lieferte über die einzige Gasleitung und konnte den Preis manipulieren. Dann war Gas für uns um 20 Prozent teurer als für Lettland oder Estland."

Die Regierung setzt jetzt auf erneuerbare Energien

Die AKW-Gegnerin Karolina Štelmokaitė, litauische Grünen-Abgeordnete im EU-Parlament, weist die Behauptung zurück, Atomenergie schaffe energiepolitische Unabhängigkeit und sei deshalb von den Litauern vorbehaltlos unterstützt worden: "Wir haben in Litauen ja auch keinen Kernbrennstoff, den mussten wir also auch aus Russland oder anderswoher holen. Gegen das AKW Ignalina gab es schon zu Sowjetzeiten Protest. Die litauische Unabhängigkeitsbewegung Sąjūdis hat ihre Wurzeln auch in der Umweltbewegung."
Inzwischen setzt die litauische Regierung unter Führung der "Partei der Grünen und der Landwirte" auf erneuerbare Energien. Sie machen einen immer größeren Anteil am Energiemix des Landes aus. Karolina Štelmokaitė sieht darin den richtigen Weg: "Wir haben beschlossen, dass Verbraucher ihre eigenen Solaranlagen auf dem Dach betreiben und den Strom in das Netz einspeisen können. Es gibt eine starke Bewegung hin zu dieser Form von größerer energiepolitischer Unabhängigkeit."
Doch was macht das mit Visaginas? Nicht einmal mehr 20.000 Einwohner leben hier heute. Die Stadt wirkt seltsam leer. Die Hauptstraßen sind überbreit, manche enden im Nichts. Es gibt viele neue Supermärkte oder Behördenbauten - und viele beeindruckende Grünanlagen. Überall sind Menschen damit beschäftigt, sie zu pflegen und zu verschönern. Es wirkt wie eine Arbeitsbeschäftigungsmaßnahme.

Tourismus eröffnet neue Perspektiven

Zugleich ist man in Visaginas auch längerfristig auf der Suche nach neuen Perspektiven. Tatiana Dmitrieva leitet die Tourismuszentrale. Sie setzt auf Fremdenverkehr in der schönen Umgebung mit ihren Seen, die auch in der Hymne der Stadt "Visaginas, die Stadt am See, die Stadt der Zukunft" gepriesen werden.
"Im vergangenen Jahr sind 1.800 Besucher zu uns gekommen, um Auskünfte zu erhalten", sagt Dmitrieva. "In letzter Zeit kamen viele dieser Touristen auch wegen des Atomkraftwerks. Die haben sich von der Fernsehserie 'Chernobyl' anlocken lassen, und man kann Führungen durch das Kraftwerk buchen. Aber es kommen auch Menschen, um einfach Urlaub zu machen. Denn unsere Stadt liegt im Wald. Man kann hier aktiv Sport treiben. Unser Strahlungsniveau ist niedriger als beispielsweise in Vilnius, das heißt, damit gibt es keine Probleme. Am Kraftwerkssee verläuft ein Weg. Den kann man touristisch nutzen. Man kann auch im See baden. Es gibt da einen kleinen Strand."
Eine Touristin fotografiert ein Modell des Atomkraftwerks Ignalina.
Schauwert: Durch die HBO-Serie "Chernobyl" wurde bei vielen Touristen das Interesse am Atomkraftwerk in Visaginas geweckt.© Picture Alliance / AP Photo / Mindaugas Kulbis
Dmitrieva ist um die dreißig. Einst zog es ihre Eltern aus Weißrussland nach Visaginas, wegen der gut bezahlten Arbeit im AKW. Sie denkt gerne an ihre Kindheit am Kraftwerkssee zurück: "Als kleines Kind war ich oft bei den Großeltern. Meine Eltern hatten ein Häuschen am Seeufer. Mein Großvater kam dann mit dem Boot nach Litauen und nahm mich mit rüber auf die weißrussische Seite. Damals gab es ja noch keine Grenze."

Gemeinschaftsgefühl unter den Einwohnern

Nicht nur Weißrussen, Russen und Ukrainer leben heute in Visaginas, sondern auch Tataren, Polen, Deutsche und viele andere. Ethnische Litauer bilden in der ehemaligen Atomstadt eine Minderheit von vielleicht 20 Prozent, obwohl in der Öffentlichkeit zunehmend Litauisch gesprochen wird. Die Menschen hätten in nur wenigen Jahrzehnten ein tiefes Gemeinschaftsgefühl entwickelt, findet Oksana Denisenko. Sie leitet eine Abteilung im modern eingerichteten Kulturzentrum von Visaginas: "Das verbindende Element besteht genau darin, dass die Mehrheit von uns zugewandert ist. Die Menschen haben unterschiedliche Traditionen und Schicksale. Aber sie haben hier alle neu angefangen, auch meine Eltern und meine Großeltern. Sie haben etwas Neues geschaffen. Und das eint sie."
Die Lebensqualität in Visaginas loben auch einige Neuzugezogene, zum Beispiel Johannes, ein Russlanddeutscher aus Omsk. Nach dreißig Jahren Arbeit in der Automobilindustrie bei Stuttgart verbringt er nun seinen Lebensabend in der ehemaligen Atomstadt zwischen den Wäldern und Seen Ostlitauens. Gerade hat er sich hier eine Wohnung gekauft.
"Unrenoviert kann man sogar von 8.000 Euro an kaufen", sagt Johannes, "gut renoviert über 10.000 – eine Dreizimmerwohnung mit allem Drum und Dran. Es gibt nicht nur leere Wohnungen, sondern auch leere Häuser, neunstöckig, fünfstöckig. Die sind ja gebaut zeitgleich mit dem Atomkraftwerk. Ich mag hier als Rentner einfach leben und das Leben genießen, verstehen Sie? Schauen Sie mal die Umgebung an: ist doch perfekt, 300 Seen in dieser Region. Das ist die beste Lage, perfekte Luft, See, Klima. Ist alles wie in Deutschland - im Prinzip."
Trotz vieler Probleme: Auch zehn Jahre nach der Schließung des AKW Ignalina ist Visaginas alles andere als eine sterbende Stadt.
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