Rudolf Steiner

Anthroposophen in der ägyptischen Wüste

Der österreichische Esoteriker, Philosoph und Anthroposoph Rudolf Joseph Lorenz Steiner (1861-1925)
Der österreichische Esoteriker, Philosoph und Anthroposoph Rudolf Joseph Lorenz Steiner (1861-1925) © imago / United Archives
Von Anne Françoise Weber  · 01.04.2015
Vor 90 Jahren ist der Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner gestorben. Seine Ideen bewegen die Welt noch heute, die Waldorf-Schulbewegung ist populär und Produkte aus dem Demeter-Anbau sind in zahlreichen Geschäften zu finden - nicht nur in Deutschland.
"So grob 50 Prozent der Flächen sind Heilpflanzen, die anderen 50 Prozent sind Grünfutter für die Tiere, weil wir haben ja einige Tiere, die versorgt werden müssen."
Vorstandsmitglied Rafik Costandi führt über das große, von hohen Bäumen umringte Gelände der Sekem-Initiative im Nordosten von Kairo. Dass man hier Heilpflanzen anbaut, Kompost verwendet, Tiere hält und biologische Baumwolle verarbeitet, hat mit den Ideen des Anthroposophie-Begründers Rudolf Steiner zu tun. Der Gründer von Sekem, der Pharmazeut Ibrahim Abouleish, entdeckte während eines langjährigen Aufenthalts in Österreich seine Faszination für Steiners Gedanken, weil sie ihm Mensch und Natur in einem anderen Licht zeigten.
Bei einer Ägyptenreise 1975 wuchs dann in ihm der Wunsch, in seinem Heimatland mit einer neuartigen Arbeits- und Lebensgemeinschaft Alternativen zu Umweltzerstörung, Bildungsnotstand und zwischenmenschlicher Verarmung vorzuleben. Zwei Jahre später kaufte er dafür ein Stück Land in der Wüste unweit von Kairo. Sein Sohn Helmy, heute Geschäftsführer der Sekem-Holdinggesellschaft, erinnert sich, wie sein Vater damals mit seiner österreichischen Ehefrau und den beiden Kindern nach Ägypten umsiedelte:
"Und dann kamen wir 1977, um diesen Traum umzusetzen. Das eine war eben, biologisch-dynamische Landwirtschaft einzuführen in Ägypten. Und wie fängt man an: Biologisch-dynamische Landwirtschaft heißt ja Kompost und Tiere und Fruchtfolge - und dann Wüste. Das erschien allen unmöglich, man kann nicht Wüste fruchtbar machen, so einfach. Und wie er dann noch dazu seine Idee entwickelt hat, was er Iqtissad al-Mahabba nannte, oder Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, ein Konzept, was natürlich auch anthroposophisch initiiert war, dann wussten alle sofort: Das ist Kommunismus, den brauchen wir also gar nicht, das wird nie was."
Pflanzliche Zyklen und den muslimischen Gebetszeiten
Es wurde dann doch etwas, aber kein Kommunismus, sondern eine komplexe Struktur aus verschiedenen Betrieben und Bildungseinrichtungen, in denen heute insgesamt rund 2000 Menschen arbeiten. Längst gibt es Ableger in verschiedenen Regionen Ägyptens. Bestimmt ist das Ganze von den Grundsätzen der Anthroposophie - aber Gründer Ibrahim Abouleish und sein Sohn Helmy versuchen als gläubige Muslime stets, eine Verbindung zum Islam herzustellen. Zum Beispiel zeigen sie eine Parallele zwischen den für die biologisch-dynamische Landwirtschaft so wichtigen pflanzlichen Zyklen und den muslimischen Gebetszeiten auf. Oder zwischen den Grundsätzen der Waldorf-Pädagogik und Worten des Propheten Muhammad über die kindliche Entwicklung. Der Bezug auf Muhammad und den Koran ist ihnen zumindest für die Außendarstellung dabei weitaus wichtiger als der auf die Schriften Rudolf Steiners.
"Die Menschen hier, wenn man sie fragt, wissen, dass da ein Kontakt zur Anthroposophie da ist. Aber mehr empfinden sie es als eine Initiative inspiriert aus dem Islam. Das ist uns auch wichtig, denn nur dann können wir damit ein Vorbild sein für die islamische Welt. Wenn wir als anthroposophische Initiative in die Geschichte eingehen, dann ist das auch gut, aber dann ist das halt ein Fremdkörper in dieser Kultur. So ist das Inspiriertsein aus der Anthroposophie nicht das Ende, sondern mehr das neue Verständnis und Aufgreifen eines modernen Islams."
Nicht alle überzeugt dieser Versuch einer anthroposophischen Modernisierung des Islams - trotz der kleinen Moschee auf dem Gelände, in der die Mitarbeiter ihre Gebete verrichten können. Es gab Zeiten, in denen die Sekem-Bewohner in der Umgebung als Sonnenanbeter diffamiert wurden. Kein Wunder, wenn man sich anschaut, wie hier der Tag beginnt.
Costandi: "Das ist ein frei übersetzter Spruch von der Waldorf-Schule. Die Waldorf-Schule so etwa sagt: Der Sonne liebes Licht erhellet mir den Tag."
Jeden Morgen sammeln sich die Schüler aller Einrichtungen, von Kindergarten bis Berufsschule, zum Morgenkreis - ebenso wie die Mitarbeiter der verschiedenen Betriebe auf dem Gelände. Im Sekem-Kindergarten wird anschließend gesungen, gemalt und gespielt. In Waldorf-Tradition, in bunten Spielkitteln und ganz ohne Plastikspielzeug. Für die Kindergärtnerin, die aus der nahe gelegenen Ortschaft Besbes kommt und schon seit zehn Jahren in Sekem arbeitet, ist dieser Ansatz weitaus besser als die herkömmliche Pädagogik in Ägypten:
"Die öffentlichen Kindergärten gehen mit den Kindern um genau wie in der Schule, als ob sie schon groß und verständig wären. Dabei ist das ein anderes Stadium, die Kinder verstehen noch nicht so viel, sondern brauchen jemand, der es ihnen spielerisch erklärt. Das ist eine ganz andere Herangehensweise als in der Schule."
Viel Wert auf Musik, Eurythmie, Kunst und Werken
Ganzheitliche Bildung sollen die Schüler mitnehmen, und deshalb wird auch in den höheren Klassen noch viel Wert auf Musik, Eurythmie, Kunst und Werken gelegt - ganz im Sinne der Steinerschen Lehre. Für Helmy Abouleish selbst und für den ganzen inneren Zirkel der Sekem-Bewohner hört das Lernen nie auf - morgens um 6:30 Uhr trifft man sich zur "geistigen Arbeit", wie sie schon Rudolf Steiner anregte:
"Wir haben also immer Themen, Bücher, an denen lesen wir ne halbe Stunde, reflektieren, wiederholen oder so. Wir haben oft Gäste, Trainer von Europa, die kommen und dann kommt eine Kunsthistorikerin, die mit uns ein paar Wochen arbeitet, oder ein Musiker oder eine Schauspielerin ... Aber auf jeden Fall ganz bewusst eine halbe Stunde jeden Tag. Die Engel warten darauf, dass wir kommen und versuchen, uns in irgendeiner Form geistig zu betätigen."
Die Fäden der ganzen Sekem-Initiative halten die Mitglieder des so genannten Zukunftsrats zusammen, eines 13-köpfigen Gremiums, das Richtungsentscheidungen fällt und sich um die ständige Weiterentwicklung kümmert. Die Mitglieder stammen nicht alle aus der Familie Abouleish - aber alle haben sich das Projekt und seine anthroposophischen Regeln ganz zu eigen gemacht.
"Also man kann hier nicht in den Zukunftsrat, wenn man sagen würde, ich finde das alles toll, aber ich habe keine Lust, den Morgenkreis zu machen. Da sind wir ziemlich streng, deswegen ... da haben wir schon unsere Formeln, um das Ganze zusammenzuhalten."
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