Rudolf Burger: Re-Theologisierung der Politik?

Rezensiert von Josef Schmid |
Wir dachten, Politik ist ein nüchternes Aufklärungsprodukt, eine Kunst des Möglichen und Abgewogenen. Doch Rudolf Burger, der Wiener Ordinarius für Philosophie, erkennt eine "Re-Theologisierung der Politik": Großreligionen verbinden sich mit politischen Programmen, um religiöse Ordnung herzustellen, oder die Politik selbst will sich eine religiöse Weihe geben, die ihr Anhänger in Scharen zuführen würde. Das verändert die Weltpolitik gründlich.
Der Autor spürt "die politische Mobilisierung der drei großen abrahamitischen Monotheismen (...) im Christentum von protestantischen Erweckungsbewegungen, jedenfalls nicht nur des Islam,... und Israel hat seinen eigenen jüdischen Fundamentalismus, der mit der Siedlerbewegung.... die Theokratisierung des Landes vorantreibt."

Für Rudolf Burger lebt die Hegel'sche Geschichtsphilosophie seit dem Fall der Mauer weiter – sie hat nur die Seiten gewechselt. Geschichte kam mit dem Untergang des Kommunismus nicht an ihr Ende – wie jemand meinte -, sie hat sich nur auf die liberal-kapitalistische Seite geschlagen und treibt nun auf diesem Pfad von einer Begriffs- und Vorstellungsblüte zur anderen. Nach Ende des Jahrhunderts gewalttätiger Sinnsuche zeigte sich aber Unerwartetes:

"…da trat etwas ein, was in der hegelianischen Choreographie der Geschichte nicht vorgesehen war: es wurden die traditionellen Großreligionen politisch wieder brisant oder, genauer gesagt (...) weltpolitisch sichtbar und vielleicht bestimmend."

Alle Kämpfe und Aufstände des 20. Jahrhunderts waren marxistisch oder nationalistisch inspiriert und daher westliche Modelle, die alle auf Säkularisierung, Entzauberung der Welt und Modernisierung beruhten. Das heißt, dass die geistliche Revolution im Iran 1979 der Vorbote einer Weltwende war, die nicht dem Muster europäischen Fortschritts folgen würde:

Es war "der erste große und erfolgreiche, explizit religiös inspirierte Umsturz der jüngeren Geschichte (...) Es gab gewiss bedeutende islamische Vorläufer (...), aber seit den späten 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts nehmen islamistische Bewegungen an Stärke, Aggressivität und Verbreitung deutlich zu."

Rudolf Burger sieht noch weitere Vorgänge, die seine These von der Re-Theologisierung der Politik untermauern und sie stehen im engen Zusammenhang mit der Weltunordnung seit der Wende. - Was den Europäisierungsprozess betrifft, so scheinen auch hier unterschätzte Kräfte am Werk. Der Autor bezweifelt eine – wie er es nennt – "Kontinentalverschmelzung". Unter der Frage "Was ist die EU wirklich und was kann sie werden?", zeigt der Verfasser, wie sich Kultur, Staat und Souveränität der Vergemeinschaftung entziehen. Mit "Kultur" beginnt es:

"Jede Kultur aber hat einen religiösen Glutkern, als dessen Emanation sie auch als säkularisiert-erkaltete in wesentlichen Zügen bestimmt bleibt, (...) in ihren Traditionen und in ihrer Alltagsmoral. Dieser Glutkern kann unter nicht prognostizierbaren Bedingungen wieder eruptiv werden, wie gerade die jüngste Geschichte zeigt."

Dies widerspricht einer europäischen Schwarmgeisterei, die nur immer weiter will, ohne genau sagen zu können, wohin.
Nun sei ein Kapitel aufgegriffen, das der Autor an den Anfang stellte, hier aber – seines Nachhalls wegen – an den Schluss gestellt sei. Es geht um "Vergangenheitspolitik" unter der Frage: "Sind die Deutschen Therapiebedürftig?"

Von Re-Theologisierung der Politik zeugen wohl auch Glaubenssätze aus psychologischen Ersatzreligionen, bloße Deutungen also, die aber reale Konsequenzen haben. Mit einer bestimmten Vergangenheitspolitik, einem Psychologem, trägt Deutschland zu quasi-religiösen Erweckungserscheinungen der Gegenwart bei.

"Wir stehen unter Verdacht, als Mitglieder von Nationalkollektiven unsere schuldbeladene, verbrecherische Nazivergangenheit 'verdrängt' und nicht hinreichend ''aufgearbeitet', daher auch nicht "bewältigt" zu haben; und das, so sagt man, sei moralisch schlimm und politisch gefährlich, denn es drohe die 'Wiederkehr des Verdrängten'. Man sagt es seit mehr als 50 Jahren. Daher traut man uns und trauen wir uns selbst nicht ganz."

Eine Vulgäranwendung Freud'scher Psychoanalyse auf das Kollektivsubjekt Nation ist zum liturgischen Festbestand im nationalstaatlichen Darstellungsraum geworden.

"Wohlgemerkt: Es handelt sich nicht um die politisch-rechtliche Verantwortung der Nachfolgestaaten eines Verbrecherregimes, ...auch nicht um die Pietät des Andenkens, sondern um die Zuschreibung einer Nationalpathologie, die aus der Verdrängung einer Kollektivschuld resultiere."

Wird der Vorwurf der Verdrängung regungslos hingenommen, kann man damit die Rückkehr zu nationaler Normalität bequem hintertreiben und – in vulgärtherapeutischer Logik – einen Erinnerungs- und Aufarbeitungszwang verordnen, mit dem allein der schreckliche Anlass der Verdrängung an seiner Wiederholung gehindert werden könne. Diese Technik aus der Freud'schen Neurosenlehre ist für den Einzelpatienten auf der Couch gedacht; auf ein Kollektiv übertragen, ist Verdrängung gar nicht mehr nachzuweisen, wenn es nicht sogar unstatthaft ist, dort danach zu suchen. Weder Popperische Wissenschaftslehre noch empirische Sozialforschung könnten hier einen Gegenstand erkennen. Geschieht es dennoch, entsteht ein Klima des Verdachts, dem nur der entgeht, der ihm eifrig und beflissen zuträgt.

"Das Spiel lebt freilich davon, dass in der Vergangenheitspolitik nicht nur mit äußerst unklaren....Begriffen operiert wird, sondern dass das ganze sozialpsychologische Konzept, nach dem es abläuft, niemals einer ernsthaften Kritik unterzogen worden ist ... ,denn eine solche Kritik gilt psychoanalytisch als 'Abwehr', wirkt daher ihrerseits wie ein Tabubruch.... Wer Klischees aufgreift und zum Gegenstand einer Sachabwägung macht, gilt selbst schon als von der Krankheit befallen."

So werden objektive Einwände gegen die Verdrängungsthese wie der massenweise Absatz von seriöser Aufklärungsliteratur über die Nazizeit und Naziverbrechen gar nicht registriert. Zweischneidig ist die Dauerpräsenz dieses Themas in den Medien. Hier wird das Thema nicht verdrängt, sondern vielmehr den Menschen kulturindustriell aufgenötigt. Demagogie und Einschüchterung werden auf die Spitze getrieben, wenn die im pseudo-freudianischen Modell vorgesehene Wiederkehr verdrängter Erinnerung in eine Wiederkehr des real geschichtlichen, konkreten Verbrechens, dessen zu gedenken unerträglich sei, umgedeutet wird:

"allein die ständige Präsenz von Auschwitz im Gedenken sei ein Schutz vor dessen realer Wiederkehr, nur wer sich unablässig mit dem vergangenen Schrecken konfrontiert, vermag in der Gegenwart verantwortlich zu handeln. Wer das nicht tut, hat 'aus der Geschichte nichts gelernt'. "

Rudolf Burger ersieht daraus scharfsinnig zwei Argumentationstypen, die unterschiedlichen Logiken gehorchen: nämlich psychoanalytische Reinigung und sozialpädagogische Warnung. Sie "gehen trübe ineinander über und stabilisieren sich wechselseitig."

Anschließend greift der Autor Parolen des "Niemals vergessen" auf und kann sie nicht als Friedensformel auffassen, sondern als Kampfparole, die gerade im günstigen Moment geschichtliche Schrecken wieder anfachen will.

"Was wäre den Völkern am Balkan nicht alles erspart geblieben, hätten die Serben die Schlacht am Amselfeld irgendwann einmal vergessen..."

Mit Rudolf Burgers Essay dürfte auf die deutsche Vergangenheitspolitik wieder ein Vergleich zurollen: von Perioden, die auf Vergessen beruhen, mit solchen, die im Dauerdiskurs Dämonen von gestern beschwören und beschwichtigen, um sie an ihrer Wiederkehr zu hindern. Burger nennt Perioden, die nach Kriegsgräueln dem Gebot des Vergebens und Vergessens gefolgt sind, und dadurch Humanität und Fortschritt gefördert haben. Die Zivilisationsleistung ist diejenige, die einen 30-jährigen Krieg beendet hat und nicht, die aus ihm einen dreihundertjährigen gemacht hätte.

Rudolf Burger: Re-Theologisierung der Politik?
Wertedebatten und Mahnreden
Verlag Zu Klampen / Springe, 2005