Rotkäppchen im Großstadtdschungel

16.07.2013
Der italienische Illustrator Roberto Innocenti wurde bekannt durch sein Bilderbuch "Rosa Weiss", in dem er Kindern das Grauen der Schoah nahe bringt. Sein neues Buch ist eine Interpretation der Geschichte vom Rotkäppchen - und beeindruckt mit wuchtigen, sperrigen und düsteren Bildern.
"Das Mädchen in Rot" erzählt eine Rotkäppchen-Geschichte, allerdings auf magisch verstörende Weise: Der Wald ist eine chaotische Großstadt aus Beton und Ziegelsteinen. Sophia - rote Jacke, rote Zipfelmütze - wohnt am Rande dieses Waldes in einem großen Haus. Weil es ihrer Oma nicht gut geht, packt das Mädchen Kekse und Orangen ein und geht sie besuchen. Und obwohl Sophia weiß, wie gefährlich die Stadt ist, lässt sie sich vom rechten Weg weglocken. Sie verirrt sich, gerät in bedrohliche Situationen, in ein finsteres Gewitter und begegnet einem schwarz gekleideten Jäger mit düsterer Sonnenbrille. Schließlich ist die Großmutter nicht in ihrem herunter gekommenen Camper zu finden und es gibt zwei mögliche Schlüsse: einen hässlichen oder ein happy end, das aber kaum weniger beängstigend ist.

Kaum eine andere Geschichte dokumentiert so gut die Entwicklung des Bilderbuches wie das Märchen vom Rotkäppchen. Hunderte von Ausgaben haben es in den vergangenen 150 Jahren naiv, schräg, magisch, realistisch, fantastisch oder abstrakt erzählt. Innocenti und Frisch wählen eine aktuelle Variante, bleiben in Ton und Bildern aber märchenhaft-magisch. Es geht nicht nur um ein Kind von heute, das sich verirrt, sondern ganz allgemein um Einsamkeit und Angst, Verlorensein und Gefahr. Und, wählt man den zweiten Schluss, um Rettung. Wählt man den ersten, dann sieht es schlecht aus für die Großmutter. Eine Lesart, die sich auf die berühmte Szene aus Steven Spielbergs Film "Schindlers Liste" bezieht, in der ein kleines "Mädchen in Rot" das Gemetzel im Ghetto beobachtet.

Düstere Illustrationen voll magischem Realismus
Wuchtig, sperrig, düster sind Roberto Innnocentis Illustrationen zu Aaron Frischs Text. Sie wirken wie eine Mischung aus Wimmelbilderbuch und magischem Realismus. Es gibt unendlich viel zu entdecken im Dschungel der Großstadt, vor allem Hässliches: Graffiti, geschmacklose Plakate und heruntergekommene Häuser, hetzende Menschen mit starren Gesichtern und bedrohliche Polizisten. Wie ein Labyrinth wirkt diese Stadt, undurchschaubar und abstoßend. Die Welt ist ein düsterer Albtraum.

Dies ist kein Bilderbuch für Kinder ab drei, kein frisch-fröhliches Geschichtchen, sondern eine einzige Herausforderung. Der beschwörende Ton und die beklemmende Handlung, die bedrückende Atmosphäre und die schrille Gestaltung, die bedrohlichen Figuren und grellen Farben können sogar einen Erwachsenen das Fürchten lehren!

Damit gehört "Das Mädchen in Rot" zu der immer größer werdenden Gruppe von Bilderbüchern, die – wie früher die Künstlerbücher – zuerst einmal eigenständige Kunstwerke sind und nicht für ein bestimmtes Publikum geschaffen wurden. Zu einem neuen Genre, das alle Altersgrenzen überschreitet und Elemente von Comic und Graphic Novel ebenso einbezieht wie surrealistische oder klassische Motive. "Eine gute Geschichte aber ist magisch", heißt es am Anfang des Buches. Und tatsächlich hat die Magie wieder Einzug ins Bilderbuch gehalten, nach vielen Jahrzehnten des gut gemeinten Realismus.

Besprochen von Sylvia Schwab

Roberto Innocenti und Aaron Frisch: Das Mädchen in Rot
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2013
32 Seiten, 16,95 Euro
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