"Rory & Ita"

Rezensiert von Joachim Scholl |
Der Booker-Preisträger Roddy Doyle ist einer der bekanntesten zeitgenössischen irischen Autoren. "Rory & Ita" ist ein Stück einzigartiger Memoirenliteratur, in dem Doyles Eltern über ihr Leben im Irland der 20er und 30er Jahre sprechen. "Das Markenzeichen Doyles ist seine unprätentiöse Menschlichkeit" schreibt "The Irish Times".
"Mein ganzes Leben lang habe ich nur in zwei Häusern gewohnt, habe nur zwei Jobs gehabt und einen einzigen Ehemann. Ich bin eine sehr interessante Person." Es war diese Äußerung seiner Mutter Ita, die Roddy Doyle im Herbst 2000 so durcheinander brachte, dass er alle aktuellen literarischen Pläne über den Haufen warf.

Er saß mitten in der Arbeit am zweiten Teil seiner Roman-Trilogie über die Geschichte Irlands im 20. Jahrhundert: "Ich ließ alles liegen, arbeitete nächtelang durch, ich war nicht mehr zu halten ...", bekannte der Autor in einem Interview, nachdem "Rory & Ita" erschienen war.

Wie ein waschechter Reporter, mit Mikrofon und Kassettenrekorder, hatte sich der Romancier der Lebensgeschichte seiner Eltern genähert: Vater Rory und Ehefrau Ita erzählen aus ihrer Perspektive. Der Sohn übernimmt diese mündlichen Passagen, überträgt die Erinnerungen streng chronologisch in abwechselnde Kapitel und hält sich, bis auf behutsam paraphrasierte Stellen, ganz zurück. Fußnoten und ein Glossar helfen (vor allem dem ausländischen Leser), die zahlreichen lokalen und politischen Verweise und Zusammenhänge zu verstehen.

Rory und Ita sind beide in den 1920er Jahre geboren. Sie entstammen kleinen, aber soliden katholischen Verhältnissen eines Dubliner Vororts, man kämpft sich durch, besteht bei aller Armut und Entbehrung auf guter Erziehung und Bildung der Kinder. Eher in der Ferne schwelen die politischen Konflikte des irischen Freiheitskampfes. Auch der Zweite Weltkrieg ist mehr Kulisse als prägende Realität.

Beim Tanzen lernen sich Rory und Ita kennen. Er liebt Bücher und wird Schriftsetzer, Ita arbeitet bis zur Heirat als Sekretärin. Mit dem Kauf eines Hauses beginnt der bürgerliche Aufstieg der Jungvermählten. Das Leben der Doyles entspricht fortan dem Wandel Irlands zu einer aufstrebenden europäischen Nation. Man mag sich fragen: Wo bleibt die Spannung, passiert denn gar nichts Aufregendes? Wo sind die Erschütterungen, wie sie vor einigen Jahren etwa von Frank McCourt in seiner sensationellen irischen Biographie "Die Asche meiner Mutter" geschildert wurden?

Der Vergleich drängt sich auf, doch er weist in die falsche Richtung. Denn der Reiz von Roddy Doyles Buch entsteht gerade durch das Ausbleiben jeglicher sozialer Dramatik. Das Gewöhnliche wird repräsentativ und wirkt umso authentischer, je mehr die kleinen, unspektakulären Dinge eines "normalen" Lebens ins Zentrum rücken. Rory und Ita resümieren die Anekdoten, Stimmungen und Farben der Epochen im Licht ihres Alltags, der aus Arbeit, Ehe, den Sorgen und Freuden besteht, wie jeder Mensch sie kennt. Dabei muss der trockene Witz, mit dem seine Eltern oft berichten, dem Autor die Wurzeln des eigenen Humors gezeigt haben, die ihn weltberühmt gemacht haben.

Seit der Verfilmung seines Debüts "The Commitments", das Roddy Doyle 1986 noch im Selbstverlag herausbrachte, ist der Autor ein internationaler Literaturstar, der englische Booker-Preis für seinen vierten Roman "Paddy Clarke Ha Ha Ha" steigerte diesen Ruhm. Inzwischen genießt Roddy Doyle weltweit Beststeller-Status. Vor diesem Hintergrund ähneln seine zurückhaltende Rolle als Chronist von "Rory & Ita", der Verzicht auf pralle Pointen, wie man sie von ihm kennt, einer liebe- und respektvollen Danksagung an die Eltern: "Ich wollte Ihnen eine Freude machen", sagt der Sohn. Man freut sich mit ihnen. Und findet das Buch wunderschön. Ein Leben ist nie langweilig, wenn es keine Literatur sein will.

Roddy Doyle: Rory & Ita. Eine irische Geschichte. Aus dem Englischen übersetzt von Renate Orth-Guttmann, Carl Hanser Verlag München 2005. 320 Seiten mit 32 Abbildungen. € 21,50