„Romeo und Julia“-Inszenierung von Andrij Zholdak in Berlin
Die Berliner Volksbühne zeigt in dieser Woche eine „Romeo und Julia“-Uraufführung des ukrainischen Regisseurs Andrij Zholdak. Wichtigstes Thema ist nach Angaben Zholdaks das Thema Heimat, die Ukraine heute. Dort wird die Inszenierung wohl nie zu sehen sein, denn Zholdak ist in dem Land umstritten.
Zholdak: „Für mich ist das Territorium der Träume, der verborgenen Wünsche, Visionen und Gedanken interessanter als die Wirklichkeit. Also unser zweites Leben, das vielleicht auch unser erstes ist. Die Kategorien des Raumes und der Zeit sind im Theater wenig erforscht. Einsteins Relativitätstheorie ist hier nicht anwendbar. Ich versuche, dass sich die Schauspieler, der Raum und die Zeit parallel entfalten. Ich will nicht einfach nur den Text und das Sujet bedienen. Vielmehr soll der Zuschauer, wenn der Vorhang aufgeht, einen neuen Raum der Zeit entdecken. Räume der Erinnerung entstehen: an Kinderszenen, an Menschen, die gestorben sind, an Tiere, die einmal waren. Obwohl es sie nicht mehr gibt, existieren sie in uns weiter.“
„Ein Monat der Liebe“
Barocke Bildwelten, jenseits der herkömmlichen Vorstellungen von Raum und Zeit. Frozen Moments, Blitzlichter der Erinnerung, fragmentarisch und surreal. Ein Kaleidoskop von Kinderphantasien, auf den Kopf gestellt. Wir sehen „Ein Monat der Liebe“ eine Inszenierung von Andrij Zholdak am Charkiwer Schewtschenko-Theater: Menschen pappen wie Vogeltrophäen an Wänden, sie betreten Räume durch Türen, die in den Himmel gewandert sind oder verlassen sie durch Wände, sie schweben vor um 180 Grad gedrehten festlichen Tafeln, auf die man wie aus der Vogelperspektive schaut. Sie ragen als Riesen hoch in den Himmel oder bohren sich, zerstückelt, amputiert, mit einzelnen Körperteilen durch Wände. Sie kommunizieren wie selbstverständlich mit den Tieren, oder mutieren gar selbst zu Insekten, Käfern, Fabelwesen. Kein Halt, nirgends. Das Prinzip rasender Metamorphosen erfasst auch die Gegenstände, die längst ihr Eigenleben entwickelt haben: Tische wandeln sich zur Arche Noah wandeln sich zu Betten und Katafalken, Telefone, durch Wände entschwunden, ritzen sich in ihnen ein als seltsame Zeichen. Wenig später werden sie zu Mordinstrumenten.
Zholdak: „In einem Buch über Mönche heisst es, dass für sie die Bäume und Sträucher nur künstliche Antennen sind. Schließt man sich an einen Baum an, bekommt man eine bestimmte Energie, schließt man sich an einen zweiten an, erhält man eine andere. Wenn man das vergisst, lebt man auf dem Niveau der Tiere. Theater – das sind Illusionen, das ist Künstlichkeit, das ist die Droge einer anderen Welt. Ich muss spüren, dass ich in die Welt eines Künstlers hineinspringen und wenigstens für eine Stunde dort sein will. Theater, symphonische Musik – das ist wie eine Droge. Die drei Prozent der Bevölkerung, die Theater und Kunst konsumieren, sind die Zivilisation, sie machen die Entdeckungen.“
Welttheater im östlichen Grenzland der Ukraine. Charkiw: Dunkelheit, Schlaglöcher, Kriminalität. Der riesige konstruktivistische Betonquader der Gasprom im Zentrum der Zweimillionenstadt verschwindet in grauen Nebelschwaden. Die Schwerindustrie, die hier aus dem Boden wuchs, als Charkiw von 1917-34 vorübergehend zur Hauptstadt der Sowjetukraine avancierte, hat über die Stadt bis heute eine undurchdringliche Schicht von Dreck und Asche gelegt. Ab und an sieht man ein Zeichen der neuen Zeit: Auf dem russischen T-34 Panzer, der sich wie eine Riesenschildkröte hinter dem Monument zur Erinnerung an den Roten Okober aufbaut, ist „Rammstein“ geschrieben, sein englischer Kollege daneben aus dem Ersten Weltkrieg trägt die schwarze Graffity „Eminem must die“. Andrij Zholdak leitet hier seit 2002, nachdem er jahrelang als Gastregisseur durch die Bühnen des ehemaligen Ostblocks tingelte, das Schewtschenko-Theater. Die Schaukästen des Foyers zeigen noch immer die heroischen Bilder des Fronttheaters, an der Außenwand weist eine Reklamentafel den Weg zu einem Spielsalon.
Zholdak: „Ich habe die Theorie, dass wir überall von unsichtbaren Spuren umgeben sind, von Phantomen, die bereits vor uns da gewesen sind. Warum inszeniere ich Klassiker und keine Zeitgenossen? Oder die Zeitgenossen wie Klassiker? Ich gehe durch die Wüste, durch den Sand. Es gibt nichts, man kann den Verstand verlieren. Plötzlich sehe ich mitten in der Wüste ein durchsichtiges Häuschen mit einem Telefon. Ich gehe rein, nehme den Hörer ab, am anderen Ende ist Shakespeare. Oder Moliere, oder Pirandello. Und ich verstehe: Vor mir war schon Shakespeare da. Und sofort ist es für mich leichter, durch die Wüste zu gehen. Man kann immer einen Klassiker über seinen Text anrufen. „Hallo, hier ist Andrij Zholdak. Du bist schon lange nicht mehr da, aber ich bin gekommen, wie gut, dass es dich gibt.“ Und dann geh ich weiter. Das ist für mich die Klassik. Ich brauche sie, um den Zuschauern über meine Träume das Gefühl von Hoffnung zu vermitteln.“
Andrij Zholdaks ausufernde vierstündige szenische Phantasie nach Turgenjews Fünfakter „Ein Monat auf dem Lande“ kreist um eine simple Dreiecksgeschichte. Doch sie ist nur der Anlass. Ein Goldgrund, über den sich allmählich Tod, Gewalt, Zerstörung schichten. Die Figuren fallen übereinander her, dringen ineinander ein, der andere wird zum Dünger für die eigene Geilheit. Aus Jugendstilfiguren, Statuen werden Kannibalen, Zombies, Roboter. Zholdaks „Monat der Liebe“ wird zum Tag in der Hölle.
„Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“
Die Welt schrumpft zum Lager. Eine Versuchsstation mit dem Experimentierkaninchen Mensch. In einen kleinen Probenraum, auf Eisenstühle gezwängt, schnaubt, tobt, bellt hautnah Solzenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“. Kahlgeschorene Geschöpfe mit grotesken Hasenohren werden nackt durch Käfige gejagt, von Karabinern und Schäferhunden malträtiert, wie Pakete durch die Luft geschmissen, zerstückelt, gedemütigt, zu Tode gefoltert. Das humanitäre Pathos der legendären Tauwettererzählung wird unter Stiefeltritten zertrampelt. Der Text, auf eine Seite zusammengestrichen, ist die Folie, auf der Zholdak sein Künstlerego austobt. Ein Berserker der Szene arbeitet sich durch die Traumata einer unterdrückten Nation, zerhackt und zerlegt sie, verpasst ihnen seinen Stempel.
Zholdak: „Der Erdball ist eine nicht steuerbare Pest, ein schwarzes Chaos. Viele Künstler der Welt schlagen Alarm. Ich würde gerne eine Aufführung über den ganzen Menschen machen. Aber es gelingt mir nicht. Meine Antennen, die Signale, die ich empfange, erlauben mir das nicht. Jemand hat richtig gesagt. Wir sind keine Menschen. Wir sind auf dem Weg dahin, Menschen zu sein. Ich habe die Theorie, dass wir künstliche Geschöpfe sind. Ich halte mich für einen Roboter.“
Der Skandal ist programmiert. Die getretene ukrainische Nationalseele, die sich gerade erst aus Jahrhunderten der Unterdrückung zur Freiheit vorgekämpft hat, schlägt zurück. Wer ist hier Opfer, wer Täter? Mit Zuschauerprotesten, amtlichen Maßregelungen, Zensurmaßnahmen, Mittelkürzungen fängt es an, noch unter dem verhassten Kutschma-Regime. Am zweiten September diesen Jahres räumt Zholdak sein Theater, packt innerhalb von vier Stunden seine Bücher, Zeichnungen, Unterlagen. Er schreibt sein Entlassungsgesuch. „Romeo und Julia“, seine neueste Shakespearezertrümmerung, wird nun im Westen, in Coproduktion mit den Festspielen, an der Berliner Volksbühne Premiere haben. In der Ukraine wird sie wohl nie zu sehen sein.
Zholdak: „Es ist wie der Mythos vom verlorenen Sohn. Ich bin aus meinem Haus gegangen, meinem Theater, meiner Heimat. Meine Freunde und Sprache habe ich hinter mir gelassen. Später einmal werde ich vielleicht wieder an die Tür klopfen, mag sein, dass mir jemand öffnet. Es ist eine Art freiwillige Verbannung.“
Jetzt also: die Volksbühne. In Berlin, der großen Schwester von Kiew, ebenfalls eine Stadt der zubetonierten Seelen, fühlt er sich wohl. „Es ist ein schlafender Vulkan. Hier empfange ich meine Impulse“, sagt er und klopft sich auf den Ellenbogen. Das neu in Deutschland gelandete ukrainische Raumschiff versucht sich zu orientieren. Er gibt sich demütig, als Schüler. In dieser Woche zeigt die Volksbühne, als Vorspiel, neben „Romeo und Julia“ seine Turgenjew- und Solzenizyn- Variationen. Mitte November hat dann „Medea in der Stadt“ Premiere, eine Produktion mit ukrainisch-deutscher Schauspielcrew. Er erzählt von den Proben. Die Türen und Fenster auf der Bühne seien zunächst verriegelt, dann hämmerten sich die Schauspieler langsam ans Licht. Zum Schluss sehe man nur noch die gigantische Bühne: Leere. Er träumt von Schauspielern, Mitarbeitern mit Charisma, deren Superego er in der Lage sei, auszuhalten. Von der Leichtigkeit des globalen Seins, über die Landes- und Kulturgrenzen hinweg. Zukunftsmusik. Vorerst schwebt auf seinem schwarzen Shirt das Volksbühnenlogo, das Rad auf Rädern: Haut ab vor den Ganoven! Er schaut auf die gelbe Lilie in der Vase.
Zholdak: „In Tarkowskijs „Stalker“ wird lange nach jenem Zimmer gesucht, in dem sich die geheimsten Wünsche erfüllen. Das Theater ist genau so ein Ort: Es schafft die Verbindung zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt. Das Stück und der Text sind dafür nur der Anlass. Das Theater ist ein kolossales Instrumentarium, in das man sich wie in einen Traum hinein katapultieren lassen kann. So gelangt von der Matrix in die jenseitige Zone.“
„Ein Monat der Liebe“
Barocke Bildwelten, jenseits der herkömmlichen Vorstellungen von Raum und Zeit. Frozen Moments, Blitzlichter der Erinnerung, fragmentarisch und surreal. Ein Kaleidoskop von Kinderphantasien, auf den Kopf gestellt. Wir sehen „Ein Monat der Liebe“ eine Inszenierung von Andrij Zholdak am Charkiwer Schewtschenko-Theater: Menschen pappen wie Vogeltrophäen an Wänden, sie betreten Räume durch Türen, die in den Himmel gewandert sind oder verlassen sie durch Wände, sie schweben vor um 180 Grad gedrehten festlichen Tafeln, auf die man wie aus der Vogelperspektive schaut. Sie ragen als Riesen hoch in den Himmel oder bohren sich, zerstückelt, amputiert, mit einzelnen Körperteilen durch Wände. Sie kommunizieren wie selbstverständlich mit den Tieren, oder mutieren gar selbst zu Insekten, Käfern, Fabelwesen. Kein Halt, nirgends. Das Prinzip rasender Metamorphosen erfasst auch die Gegenstände, die längst ihr Eigenleben entwickelt haben: Tische wandeln sich zur Arche Noah wandeln sich zu Betten und Katafalken, Telefone, durch Wände entschwunden, ritzen sich in ihnen ein als seltsame Zeichen. Wenig später werden sie zu Mordinstrumenten.
Zholdak: „In einem Buch über Mönche heisst es, dass für sie die Bäume und Sträucher nur künstliche Antennen sind. Schließt man sich an einen Baum an, bekommt man eine bestimmte Energie, schließt man sich an einen zweiten an, erhält man eine andere. Wenn man das vergisst, lebt man auf dem Niveau der Tiere. Theater – das sind Illusionen, das ist Künstlichkeit, das ist die Droge einer anderen Welt. Ich muss spüren, dass ich in die Welt eines Künstlers hineinspringen und wenigstens für eine Stunde dort sein will. Theater, symphonische Musik – das ist wie eine Droge. Die drei Prozent der Bevölkerung, die Theater und Kunst konsumieren, sind die Zivilisation, sie machen die Entdeckungen.“
Welttheater im östlichen Grenzland der Ukraine. Charkiw: Dunkelheit, Schlaglöcher, Kriminalität. Der riesige konstruktivistische Betonquader der Gasprom im Zentrum der Zweimillionenstadt verschwindet in grauen Nebelschwaden. Die Schwerindustrie, die hier aus dem Boden wuchs, als Charkiw von 1917-34 vorübergehend zur Hauptstadt der Sowjetukraine avancierte, hat über die Stadt bis heute eine undurchdringliche Schicht von Dreck und Asche gelegt. Ab und an sieht man ein Zeichen der neuen Zeit: Auf dem russischen T-34 Panzer, der sich wie eine Riesenschildkröte hinter dem Monument zur Erinnerung an den Roten Okober aufbaut, ist „Rammstein“ geschrieben, sein englischer Kollege daneben aus dem Ersten Weltkrieg trägt die schwarze Graffity „Eminem must die“. Andrij Zholdak leitet hier seit 2002, nachdem er jahrelang als Gastregisseur durch die Bühnen des ehemaligen Ostblocks tingelte, das Schewtschenko-Theater. Die Schaukästen des Foyers zeigen noch immer die heroischen Bilder des Fronttheaters, an der Außenwand weist eine Reklamentafel den Weg zu einem Spielsalon.
Zholdak: „Ich habe die Theorie, dass wir überall von unsichtbaren Spuren umgeben sind, von Phantomen, die bereits vor uns da gewesen sind. Warum inszeniere ich Klassiker und keine Zeitgenossen? Oder die Zeitgenossen wie Klassiker? Ich gehe durch die Wüste, durch den Sand. Es gibt nichts, man kann den Verstand verlieren. Plötzlich sehe ich mitten in der Wüste ein durchsichtiges Häuschen mit einem Telefon. Ich gehe rein, nehme den Hörer ab, am anderen Ende ist Shakespeare. Oder Moliere, oder Pirandello. Und ich verstehe: Vor mir war schon Shakespeare da. Und sofort ist es für mich leichter, durch die Wüste zu gehen. Man kann immer einen Klassiker über seinen Text anrufen. „Hallo, hier ist Andrij Zholdak. Du bist schon lange nicht mehr da, aber ich bin gekommen, wie gut, dass es dich gibt.“ Und dann geh ich weiter. Das ist für mich die Klassik. Ich brauche sie, um den Zuschauern über meine Träume das Gefühl von Hoffnung zu vermitteln.“
Andrij Zholdaks ausufernde vierstündige szenische Phantasie nach Turgenjews Fünfakter „Ein Monat auf dem Lande“ kreist um eine simple Dreiecksgeschichte. Doch sie ist nur der Anlass. Ein Goldgrund, über den sich allmählich Tod, Gewalt, Zerstörung schichten. Die Figuren fallen übereinander her, dringen ineinander ein, der andere wird zum Dünger für die eigene Geilheit. Aus Jugendstilfiguren, Statuen werden Kannibalen, Zombies, Roboter. Zholdaks „Monat der Liebe“ wird zum Tag in der Hölle.
„Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“
Die Welt schrumpft zum Lager. Eine Versuchsstation mit dem Experimentierkaninchen Mensch. In einen kleinen Probenraum, auf Eisenstühle gezwängt, schnaubt, tobt, bellt hautnah Solzenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“. Kahlgeschorene Geschöpfe mit grotesken Hasenohren werden nackt durch Käfige gejagt, von Karabinern und Schäferhunden malträtiert, wie Pakete durch die Luft geschmissen, zerstückelt, gedemütigt, zu Tode gefoltert. Das humanitäre Pathos der legendären Tauwettererzählung wird unter Stiefeltritten zertrampelt. Der Text, auf eine Seite zusammengestrichen, ist die Folie, auf der Zholdak sein Künstlerego austobt. Ein Berserker der Szene arbeitet sich durch die Traumata einer unterdrückten Nation, zerhackt und zerlegt sie, verpasst ihnen seinen Stempel.
Zholdak: „Der Erdball ist eine nicht steuerbare Pest, ein schwarzes Chaos. Viele Künstler der Welt schlagen Alarm. Ich würde gerne eine Aufführung über den ganzen Menschen machen. Aber es gelingt mir nicht. Meine Antennen, die Signale, die ich empfange, erlauben mir das nicht. Jemand hat richtig gesagt. Wir sind keine Menschen. Wir sind auf dem Weg dahin, Menschen zu sein. Ich habe die Theorie, dass wir künstliche Geschöpfe sind. Ich halte mich für einen Roboter.“
Der Skandal ist programmiert. Die getretene ukrainische Nationalseele, die sich gerade erst aus Jahrhunderten der Unterdrückung zur Freiheit vorgekämpft hat, schlägt zurück. Wer ist hier Opfer, wer Täter? Mit Zuschauerprotesten, amtlichen Maßregelungen, Zensurmaßnahmen, Mittelkürzungen fängt es an, noch unter dem verhassten Kutschma-Regime. Am zweiten September diesen Jahres räumt Zholdak sein Theater, packt innerhalb von vier Stunden seine Bücher, Zeichnungen, Unterlagen. Er schreibt sein Entlassungsgesuch. „Romeo und Julia“, seine neueste Shakespearezertrümmerung, wird nun im Westen, in Coproduktion mit den Festspielen, an der Berliner Volksbühne Premiere haben. In der Ukraine wird sie wohl nie zu sehen sein.
Zholdak: „Es ist wie der Mythos vom verlorenen Sohn. Ich bin aus meinem Haus gegangen, meinem Theater, meiner Heimat. Meine Freunde und Sprache habe ich hinter mir gelassen. Später einmal werde ich vielleicht wieder an die Tür klopfen, mag sein, dass mir jemand öffnet. Es ist eine Art freiwillige Verbannung.“
Jetzt also: die Volksbühne. In Berlin, der großen Schwester von Kiew, ebenfalls eine Stadt der zubetonierten Seelen, fühlt er sich wohl. „Es ist ein schlafender Vulkan. Hier empfange ich meine Impulse“, sagt er und klopft sich auf den Ellenbogen. Das neu in Deutschland gelandete ukrainische Raumschiff versucht sich zu orientieren. Er gibt sich demütig, als Schüler. In dieser Woche zeigt die Volksbühne, als Vorspiel, neben „Romeo und Julia“ seine Turgenjew- und Solzenizyn- Variationen. Mitte November hat dann „Medea in der Stadt“ Premiere, eine Produktion mit ukrainisch-deutscher Schauspielcrew. Er erzählt von den Proben. Die Türen und Fenster auf der Bühne seien zunächst verriegelt, dann hämmerten sich die Schauspieler langsam ans Licht. Zum Schluss sehe man nur noch die gigantische Bühne: Leere. Er träumt von Schauspielern, Mitarbeitern mit Charisma, deren Superego er in der Lage sei, auszuhalten. Von der Leichtigkeit des globalen Seins, über die Landes- und Kulturgrenzen hinweg. Zukunftsmusik. Vorerst schwebt auf seinem schwarzen Shirt das Volksbühnenlogo, das Rad auf Rädern: Haut ab vor den Ganoven! Er schaut auf die gelbe Lilie in der Vase.
Zholdak: „In Tarkowskijs „Stalker“ wird lange nach jenem Zimmer gesucht, in dem sich die geheimsten Wünsche erfüllen. Das Theater ist genau so ein Ort: Es schafft die Verbindung zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt. Das Stück und der Text sind dafür nur der Anlass. Das Theater ist ein kolossales Instrumentarium, in das man sich wie in einen Traum hinein katapultieren lassen kann. So gelangt von der Matrix in die jenseitige Zone.“