Romantik und Ressentiments

Von Ludger Fittkau · 23.10.2010
Zweieinhalb Tage wurde auf der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung unter dem Motto "Mein geliebtes Deutsch" diskutiert. Abschließender Höhepunkt war dann die Verleihung des Büchnerpreis an Reinhard Jirgl.
"Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht den Georg Büchner Preis 2010 Reinhard Jirgl, der in einem Romanwerk von epischer Fülle und sinnlicher Anschaulichkeit ein eindringliches, oft verstörend suggestives Panorama der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert entfaltet hat."

Der Höhepunkt heute Abend: Die Bücherpreis-Verleihung im Staatstheater Darmstadt. Vorher zweieinhalb Tage lang: Ein feines Fest für Sprachliebhaber, eine große Bühne für den kunstvoll niedergeschriebenen Gedanken. Ein Ort, an dem die wiedererwachte Lust an der Reflexion über Sprachformen zu spüren war . All das war die diesjährige Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Sprachliche Glanzpunkte, wann immer man in diesen Tagen zuhörte. Etwa die liebevolle Laudatio Ilma Rakusas auf Karl Markus Gauß, den neuen Johann-Heinrich-Merck-Preisträger für literarische Kritik und Essay:

"Interessieren sie sich für die Erniedrigten und Beleidigten, die Randständigen und Vergessenen in den Literaturen Mitteuropas, lesen sie Karl Markus Gaus."

Oder Helmut Böttigers präzise Beschreibung der eigenwilligen Stil-Prinzipien des neuen Büchnerpreisträgers Reinhard Jirgl:

"Seine Romane sind schmerzhaft zeitgenössisch. Sie sind noch nicht einzuordnen in die bereitliegenden Schablonen."

Luca Giulianis geschliffene und humorvolle Dankrede für den Sigmund-Freud-Preis – den er als erster Italiener bekam:

"Erst mit Fünfzehn in einem Internat im Berner Oberland habe ich begonnen, Deutsch zu schreiben und vor allen Dingen zu lesen."

Schließlich Reinhard Jirgls sprachmächtige Hommage an Georg Büchner:

""Georg Büchner gelangte zu seiner grandiosen Literatur auch, weil er gerade nicht auf das System Literatur zuschrieb. Ob Arbeiten über Schädelnerven, über das Nervensystem der Barben, über die Tat des Woyzeck und das Leben des Dichters Lenz, ob wissenschaftliches oder literarisches Arbeiten. Das eine befördert das andere und in allem derselbe Gestus, mit demselben Instrument. Die Versuchsanordnung und das Skalpell des Atheismus. Das Ziel: Erkenntnis der unvollkommensten Geschöpfe aller Welten, der Irdischen. Diagnose: immer wieder Schmerz. Therapie: Wo der Schmerz des Menschen Zentrum besetzt, wird einem Gott, dem erklärten Schöpfer dieses Menschen und dieses Schmerzes, das Wort entzogen. Gott ist für tot zu erklären, sein Totenschein: die Literatur."

Die Literatur hat jedoch viele Facetten. Thilo Sarrazin und die Gebrüder Grimm. Deutschtümelnde Ressentiments gegen Muslime und die Sprache der Romantik. Auf den ersten Blick handelt es sich bei diesen Paarungen um Personen und Sprachwelten, die nichts miteinander zu tun haben. Haben sie aber doch, weil sie öffentlich der deutschen Sprache huldigen, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Motiven. Da gilt es, zu unterscheiden und auseinanderzusortieren.

Günter Grass, dessen neues Buch "Grimms Wörter" eine Liebeserklärung an die Gebrüder Grimm und ihr Wörterbuchprojekt ist, mischte sich in Darmstadt ein. Im Gespräch mit dem Akademiepräsidenten Klaus Reichert schlug er den Bogen von den Brentanos und Grimms zu denjenigen, die ihn heute mit dem Gerede von der "deutschen Leitkultur" nerven, aber gleichzeitig die romantischen Sprachschätze der Deutschen nicht mehr kennen.

Grass verglich die Jetztzeit mit der politischen Lage Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Grimms an ihrem gigantischen Wörterbuchprojekt werkelten:

"Parallel eben mit diesen vergeblichen politischen Bemühungen, zu einer Verfassung zu kommen, wenn sie an die Paulskirchenreden denken, die ganze Zeit des Vormärz. Was danach lief, dieser ungeheuer betriebsame Stillstand. Auf der einen Seite regte sich nichts, und gleichzeitig war es ein ungeheures Arbeitsvolumen, das den beiden nachgesagt werden kann, das aber nicht getragen wurde, von der Gesellschaft. Bis heutzutage hat sich da nicht viel verändert.

Wir reden hier von Leitkultur und die dummen Sprüche häufen sich. Aber fragen sie doch all diese Leute, ob sie des Knaben Wunderhorn kennen oder ne Ahnung von diesen Dingen haben. Das ist verschüttet. Andere Länder wären stolz darauf, wenn sie es hätten. Wahrscheinlich werden einige Einwanderer aus der Türkei, die ein Verhältnis dazu haben, eines Tages des Knaben Wunderhorn entdecken."

Die Romantik, vor allem aber das "Deutsche Wörterbuch" von Jacob und Wilhelm Grimm zog sich wie ein roter Faden durch die Akademietagung.
Wir leben zwar nicht in romantischen Zeiten, konstatierte Thomas Steinfeld, der Feuilleton-Chef der Süddeutschen Zeitung, in seinem Vortrag zur Kritik der Sprachkritik. Es gäbe ein Bedürfnis nach einer gelingenden und womöglich sogar besseren Sprache in weiten Teilen der Bevölkerung, machte Thomas Steinfeld in seinem Vortrag deutlich. Auch ein Thilo Sarrazin mache sich diese Begeisterung für deutsche Sprache und Literatur zu eigen und beschwöre in seinem Buch das Ideal einer funktionierenden Sprachgemeinschaft, zu der als Kind die Begegnung mit "Grimms Märchen" gehört.

Doch Sarrazin sei ein falscher Freund der deutschen Sprache, weil er sie für seine Zwecke politisiere. Er dramatisiert durch die Beschwörung von Gefährdung durch Computerspiele, Anglizismen und Immigrantensprache. Doch warum sollten die Signaturen der Romantik und speziell der Arbeit der Grimms, die Verknüpfung von Wunsch und Stoff, von Beispiel und Register, an Geltung verloren haben, fragte Steinfeld.

Und Akademiepräsident Klaus Reichert steuerte ein Zitat von Jacob Grimm aus dem Vorwort des Wörterbuchs bei, das anschaulich macht, wie die Wörter über einen Romantiker kommen:

"Wie wenn tagelang feine, dichte Flocken vom Himmel niederfallen, bald die ganze Gegend in unermesslichem Schnee zugedeckt liegt, werde ich von der Masse der aus allen Ecken und Ritzen auf mich eindringender Wörter gleichsam eingeschneit."

Auch in Darmstadt wurde man in den letzten Tagen mit eindringenden Wörtern eingeschneit. Wenn der Schnee so ist und auch noch sorgsam zwischen Buchdeckel gepresst wird, kann einem das Frühjahr gestohlen bleiben.

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