Romankunst

Der babylonische Bücherturm

Von Marko Martin · 15.01.2014
Von Cervantes und Nabokov: Der Autor Adam Thirlwell wagt sich an eine Geschichte des Romans, indem er Geschichten erzählt – und sich dabei mitunter auch verplaudert. Sein allwissender, naseweißer Stil ist ärgerlich.
Barocke Literaturfülle in den Zeiten von Twitter-Lakonie: Der 1978 in London geborene Schriftsteller Adam Thirlwell hat ein über 500-seitiges Buch mit dem Titel "Der multiple Roman" verfasst, dem er folgenden Untertitel beigegeben hat: "Vergangene und zukünftige Abenteuer der Romankunst, verortet auf fast allen Kontinenten, in zehn Sprachen und mit einem gigantischen Ensemble von Schriftstellern, Übersetzern und anderen Phantasiewesen".
Und da in diesem Kompendium – Essay und Kurzgeschichte, Abhandlung und Autoren-Porträt, Polemik und Hommage, Zitat und Persiflage – tatsächlich kaum ein Romancier zwischen Cervantes und Nabokov fehlt, sei in dieser Rezension noch eins draufgesattelt. Denn wie schrieb einst der Sechziger-Jahre-Kritikerpapst Friedrich Sieburg über Martin Walsers voluminösen Roman "Halbzeit"? "Ein toter Elefant auf einem Handkarren."
Nun ist Adam Thirlwells Mammutwerk zwar nicht tot, sondern im Gegenteil äußerst redselig, apercu- und anspielungsverliebt, keck mäandernd und von Kafkas Protagonisten in Zeilengeschwindigkeit auf Eric Saties Musik kommend (dabei übrigens immer hoch plausibel). Doch ist der Eindruck des geradezu physisch Überlappenden, wuchtig Ungeformten durchaus vergleichbar, obwohl keinesfalls absolut unangenehm: Wie in einem Escher-Bild führen die Treppen zwar nirgendwo hin, weiten jedoch die Perspektive und schärfen den Blick.
So lässt uns der Autor etwa ein schäbiges Café in Buenos Aires entdecken, wo des Polnischen unkundige Enthusiasten versuchen, Witold Gombrowiczs Roman "Ferdydurke" ins Spanische zu übersetzen, obgleich der unentwegt Erklärungen abgebende Exil-Autor nun seinerseits kaum spanisch spricht. Wer will, kann Thirlwells Buch deshalb auch als Revolte gegen alle schmallippig literaturwissenschaftlichen und feuilletonistischen Einhegungs-Strategien lesen, als eine lustvolle Verteidigung grenzüberschreitender Imaginationskraft, so wie sie etwa auch der Ungar Péter Esterházy in seiner bereits 1968 erschienen, 900-seitigen "Einführung in die schöne Literatur" geleistet hatte.
Gerade aber hier liegt die Crux: Der nachgeborene Adam Thirlwell, dessen zum Teil hochgelobte Romane in ihrer Verbindung aus Aktion und gewitzter Reflexion von manchem bereits mit dem Schreibstil Milan Kunderas verglichen wurden, kennt zwangsläufig vieles nur aus zweiter Hand, nicht zuletzt das entscheidende Sujet Autor versus Macht. Dass er sich derlei erst anlesen musste, spricht dabei als notwendiges Verfahren weniger gegen den Autor als sein naseweiser Stil, in welchem über Borges genauso geplaudert wird wie über Walter Benjamin oder Bohumil Hrabal.
Da heißt es etwa: "Auch erinnere ich mich daran, wie der tschechische Philosoph Jan Patocka, ein Gründer der Charta 77..." Aber Adam Thirlwell erinnert sich eben nicht, hätte dies zeitlich und räumlich auch gar nicht leisten können. Derlei anmaßende Anverwandlungen gibt es in diesem Buch zuhauf - und sie verstimmen, wird der Leser doch Zeuge davon, wie hier ein Autor einer Verwandlung anheim fällt, die jedoch nicht einmal kafkaesk ist: Aus einem intellektuell wissbegierigem Spurensammler wird ein aufgeregtes Igel-Männlein, das an allzu vielen Stellen sein "Ick bün all hier" kräht. Wie schade.

Adam Thirlwell: Der multiple Roman
Aus dem Englischen von Hannah Arnold
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2013
525 Seiten, 24,99 Euro