Romanheld und Lebemann i. R.

13.06.2012
Er ist 67, hat eine Hüftoperation hinter sich und nennt sich selbst "Lebemann i.R." Christopher John McCools Leben spielt sich mehr in der Erinnerung an die Vergangenheit als in der Gegenwart ab.
Die 60er Jahre, das waren seine große Zeit, in der die Troggs spielten, die Stones, die Beatles, Herman’s Hermits und in der er abends in den Clubs noch der tolle Hecht war: "Das Gute am Alter ist, dass man endlich einen klaren Blick auf die Dinge hat. Man blickt zurück auf sein Leben, und was man sieht, ist eine Komödie."

Das Problem ist nur: Dieser Chris J. McCool, der hier Rechenschaft ablegt, ist ein höchst unzuverlässiger Erzähler – und sein Blick zurück alles andere als klar. Wir können nur mutmaßen, was er wirklich erlebt und was er nur erfunden hat. Da ist z.B. seine Herkunft – ist er nun der Sohn eines "angesehenen Literaturkritikers", der ihn bei einem Seitensprung mit einer Bauerstochter zeugte oder ist er der Sprössling eines Buchhalters, der der Ehefrau besagten Literaturkritikers "das Allerheiligste polierte"?

Fest steht nur: Die Literatur, namentlich die von James Joyce und Robert Louis Stevenson, ist diesem Chris J. McCool ("nennen Sie mich einfach Pops") heilig – so heilig, wie ihm einst in den Swinging Sixties die Liebe zu Dolores McCausland gewesen sein muss. Einer Sängerin, die ihn mit einem jungen Schwarzen betrog: Marcus Otoyo, ein Nigerianer, der den Titel gebenden Choral "Die Heilige Stadt" wie kein anderer intonieren konnte. Dass ihm damals dieser "Nigger" die Frau ausspannte, hat Chris McCool offenbar nicht nur traumatisiert, es hat ihn zum Rassisten gemacht.

Und, wer weiß, vielleicht waren es auch seine Schmierereien in der Kirche ("Scheiß auf die Heilige Stadt. Scheiß auf alle Neger."), die ihn ins "Weiße Zimmer" einer Nervenheilanstalt gebracht haben, in der er allem Anschein nach mehrere Jahre Patient gewesen ist. Dieser kurze Roman von Patrick McCabe ist ein Puzzlespiel, bei dem der Leser sich aufgefordert sieht, viele verstreut daliegende Einzelteile eines Lebens zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Das fällt bei all der Redseligkeit dieses Mannes, der die Gefahr ahnt, im selbst fabrizierten "Gemisch aus Selbstmitleid und Sentimentalität" unterzugehen, nicht immer leicht.

Und es ist auch nicht so, dass dieser Chris McCool besonders sympathisch wirkte. Hält er sich doch eine 28jährige Kroatin, die er als "Püppchen" perfekt bis aufs letzte gebleichte blonde Haar so hintrimmt, dass sie der ihm vor Jahrzehnten entschwundenen Dolly gleicht.

Dennoch liest man all das mit einiger Faszination – in etwa mit demselben Blick wie McCools Psychotherapeuten, die im Roman aus diesem seltsamen Fall auch nicht recht schlau werden. So auch, wenn er uns angekommen sieht in einer "Ballonkopfzeit, in der wir alle voll eifriger Bereitwilligkeit gehorsame Nullen sind".

Es gibt in "Die Heilige Stadt" die Wendung von der "Verandatür meiner Fantasie". Diese Tür steht beim story-teller Patrick McCabe nach wie vor sperrangelweit offen. Aber sie klappert ein wenig im Wind.

Besprochen von Knut Cordsen

Patrick McCabe: "Die Heilige Stadt"
Aus dem Englischen von Paulina Abzieher und Hans-Christian Oeser.
Berlin Verlag. 238 Seiten 19.90 Euro
Mehr zum Thema