Roman über Eisenbahnerstreik ausgezeichnet

Von Peter B. Schumann · 26.06.2007
Der venezolanische Premio Rómulo Gallegos ist der traditionsreichste der spanischsprachigen Literatur. Unter den Preisträgern waren Bestsellerautoren wie Mario Vargas Llosa, Gabriel García Márquez oder Carlos Fuentes. In diesem Jahr erhielt zum zweiten Mal in der 40-jährigen Geschichte des Preises eine Frau die Auszeichnung: Elena Poniatowska wurde für ihren sozialkritischen Roman "Der Zug passiert als erster" geehrt.
Früher konnte man wenigstens noch über die literarische Qualität streiten und sich fragen, warum nun wieder keine Schriftstellerin der Ehre für würdig befunden worden war, bis dann endlich - 1997, nach immerhin 30 Jahren - Angeles Mastretta den Premio Rómulo Gallegos erhielt. 2003 bangte die literarische Welt um seine Existenz, denn Venezuela machte damals eine heftige Wirtschaftskrise durch und das Kulturministerium zeigte sich außerstande, die Prämie von 100.000 Dollar aufzubringen. Private Sponsoren verhinderten eine größere Peinlichkeit.

Vor zwei Jahren gingen zum ersten Mal die politischen Wellen hoch, als der Spanier Isaac Rosa ausgezeichnet wurde. Die rechtsgerichtete Presse warf der Jury, in der ein Kubaner saß, vor, sie habe eine der angesehensten literarischen Würdigungen der Politik von Fidel Castro und Hugo Chavez geopfert. Der spanische Autor und sein Werk seien ausgesprochen Kuba freundlich. Dabei wurde allerdings verdrängt, dass sich der prämierte Roman literarisch durchaus sehen lassen konnte.

Nach diesen Turbulenzen war man auf die Entscheidung in diesem Jahr besonders gespannt. Und ich muss sagen: Sie hätte nicht besser ausfallen können. Die Jury wählte unter 228 Romanen aus 18 Ländern El tren pasa primero / Der Zug passiert als erster von Elena Poniatowska, der großen alten Dame der lateinamerikanischen Literatur. Sie ist nach Angeles Mastretta die zweite Autorin und zweite Mexikanerin. Langsam nähert sich der Männerlastige Preis der literarischen Wirklichkeit.

Die Jury hatte bereits bei ihrer Pressekonferenz in der letzten Woche signalisiert, dass ihr sehr viele Werke von Autorinnen vorlägen. Aber sie hat keines von denen gewählt, die sich mit weiblicher Innenwelt, Geschlechterbeziehung oder Homosexualität auseinandersetzen, sondern einen zeitgeschichtlichen Roman über einen Streik der Eisenbahnarbeiter im Mexiko des Jahres 1959. Das ist zeitlebens das Thema von Elena Poniatowska: die Konflikte in der mexikanischen Gesellschaft und die Menschen, die in ihrem Schatten leben. Dabei stammt die inzwischen 74-Jährige aus wohlhabendem Haus. Sie ist in Paris geboren, Tochter einer mexikanischen Mutter und eines französischen Vaters von polnischem Adel.

Poniatowska: "Der Umstand, dass ich nicht in Mexiko geboren bin, hat mich ein Mexiko sehen lassen, das mich in Erstaunen versetzte. Ich habe immer das gesucht, was anders war als ich, was unbekannt war. Und das waren die Folgen eines zum größten Teil armen, elenden Landes. Diese Welt wollte ich kennenlernen, eine für mich zunächst magische Welt voller unbekannter Worte, einer mir oft unverständlichen volkstümlichen Sprache... Ganz allmählich bin ich in die andere Welt vorgedrungen, die nicht die meine war."

Mit Sozialreportagen über Straßenkinder, Obdachlose, Opfer der Polizeiwillkür oder geknechtete Landarbeiter hat diese kleine, zarte Frau mit dem strahlenden Lächeln auf sich aufmerksam gemacht und denen wieder eine Stimme gegeben, die keine besaßen. Immer wieder griff sie Themen auf, die nicht selten tabuisiert waren wie zum Beispiel in Die Nacht von Tlatelolco das Massaker auf dem Platz der drei Kulturen, bei dem die Regierung 1968 Hunderte von Studenten zusammenschießen ließ. Ihr Engagement richtete sich jedoch bald auch auf die Probleme der Frau in der mexikanischen Machogesellschaft, zum Beispiel in ihrem Zeugnisroman Allem zum Trotz ... Das Leben der Jesusa.

Beide Aspekte verbindet sie in ihrem jüngsten, nun ausgezeichneten Roman Der Zug passiert als erster. Den Streik der Bahnarbeiter von 1959 hat sie selbst als junge Journalistin miterlebt. Und wie so oft in ihrem belletristischen Werk bilden die dabei aufgezeichneten Interviews den Rohstoff der Geschichte. In ihrem Mittelpunkt steht ein legendärer Arbeiterführer, der die Eisenbahner damals landesweit zum Streik gegen die Willkür der Regierung und die Korruption in der Führungsriege der Gewerkschaft mobilisierte. Mit ihm kämpft eine Handvoll von Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen wollen. Sie werden zur Gefahr für das Herrschaftssystem und sehr bald für Jahre hinter Gitter gesperrt - ein durchaus aktuelles Thema.

Der Roman beginnt zwar etwas beschwerlich mit einer übergroßen Detailfülle, in der der Leser zu versinken droht. Dann aber entfaltet Elena Poniatowska ihr wunderbares erzählerisches Talent zu einer großartigen Hommage auf den Kampfgeist der Erniedrigten. Die ungewöhnliche Entscheidung der Jury macht den Rómulo-Gallegos-Preis wieder zu einem der bedeutendsten der spanischsprachigen Literatur.