Roman über die Kehrseite der Glückssuche

Blutzoll für das Weiterleben

Ärzte bei einer Transplantation
Ärzte bei einer Transplantation © picture alliance / dpa / Junge /MHH
Von Wolfgang Schneider · 16.05.2015
In ihrem Roman "Die Lebenden reparieren" nähert sich Maylis de Kerangal der Frage nach dem Preis für das Lebensglück: Die Organe eines körperlich fast unversehrten, aber hirntoten Unfallopfers ermöglichen einem Todkranken einen Neuanfang.
Ein junger Mann stirbt bei einem Autounfall; sein Herz wird transplantiert und schlägt weiter im Körper einer einundfünfzigjährigen Frau. - Das ist, in einem Satz, der "Plot" des neuen Romans von Maylis de Kerangal: ebenso schlicht wie ungewöhnlich. Schon die Frage, wer hier die Hauptfigur ist, lässt sich nur schwer beantworten. Etwa das Herz?
Im ersten Kapitel erfreut sich der zwanzigjährige Simon Limbres noch eines gesteigerten Lebensgefühls. In den frühen Morgenstunden eines eisigen Februartages bricht er mit seinen Surfer-Kumpels auf, um die Welle des Jahres zu reiten. Mit halb erfrorenen Gesichtern, glücklich und total erschöpft kehren die Freunde nach Stunden heim; zu erschöpft offenbar auch der Fahrer.
Die Eltern, die durch die schlimmst mögliche Nachricht aus ihrem Alltag gerissen werden, finden ihren Sohn im Krankenhaus äußerlich fast unversehrt vor, mit schlagendem Herzen. Aber die kardiozentrische Epoche ist vorbei. Simons Gehirn ist nach dem Aufprall "im Blut ertrunken", er ist klinisch tot. Und für die Medizin: ein ideales Ersatzteillager. Kaum haben sie den Tod ihres Sohnes realisiert, müssen die Eltern auch schon über die Organentnahme, die Zerstückelung seines Körpers entscheiden.
24 Stunden an der Seite eines intakten Menschenherzes
Mit chirurgischer Präzision beschreibt Maylis de Kerangal die Ereignisse von 24 Stunden. Ihre langen, bisweilen über mehrere Seiten gehenden Sätze erkunden die Verzweiflungen und panischen Gefühlsaufwallungen der "menschlich" Betroffenen (der Eltern und der Freundin von Simon), widmen sich aber mit gleicher Intensität den Abläufen des medizinischen Betriebs und der Transplantationschirurgie. Auch dieser Betrieb wird bei aller erforderlichen und wünschenswerten Sachlichkeit von ihrerseits sorgengeplagten, ihre Lust und ihr Glück suchenden Menschen am Laufen gehalten – Ärzten und Krankenschwestern im Bereitschaftsdienst, Koordinatoren des Organaustauschs, Spezialisten für die Verpflanzung von Herzen, Lebern, Nieren. Sobald sie ins Blickfeld des Romans geraten, werden auch ihre persönlichen Welten aufgefächert. Immer wieder setzt der Roman so an ganz unerwarteten Existenzpunkten an.
Wo für die einen die gewohnte Welt in schwarzer Trauer untergeht (Simons Eltern), da vermeldet die gerade von ihrer Nikotinentwöhnung strapazierte Ärztin im Büro des Zentrums für die Zuteilung von Spendeorganen am Telefon: "Ich habe ein Herz!" Und in einer anderen Stadt ergibt sich für eine Schwerkranke ein Hoffnungsschub: Klappt es diesmal mit der Transplantation? Es ist ein harsches Nebeneinander inkommensurabler Erfahrungen, das der Roman virtuos in Szene setzt. So kommt zum medizinischen ein philosophisches Thema: "die Zersplitterung der Welt, die absolute Diskontinuität der Wirklichkeit, das unendliche Auseinanderstreben der menschlichen Wege". Diesem "Auseinanderstreben" wird der Roman durch seine rhizomartige Struktur gerecht.
Das klingt vielleicht abstrakt. "Die Lebenden reparieren" überzeugt jedoch durch die Detailfreude, eine bisweilen geradezu mikroskopische Genauigkeit und die Ästhetik der Zeitlupe. Dies ist keine Allerweltsprosa, sondern eigenwillige, bisweilen fordernde Erzählartistik. Ein Roman, der buchstäblich unter die Haut geht.

Maylis de Kerangal: Die Lebenden reparieren
Roman, aus dem Französischen von Andrea Spingler
Suhrkamp Verlag 2015
256 Seiten, 19,95 Euro

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