Roman

Koreanisches Familiendrama

Von Dina Netz · 10.04.2014
Bruderverrat, unerfüllte Liebe und dunkle Geheimnisse: Lee Sung-Us Buch ist Tragödie, Märchen, Krimi und Parabel in einem. Für westliche Leser ist der Text nicht immer leicht zu entschlüsseln.
Ki-Hyeon hat es zu nichts gebracht. Er wohnt auch als Erwachsener noch zu Hause und hat gerade halbherzig eine Detektei eröffnet. Dann kommt der erste Auftrag: Er soll ausgerechnet seine eigene Mutter beschatten. Ki-Hyeon nimmt an, und dadurch kommt die Geschichte in Gang – und das scheinbar betonierte Familiengefüge der vier Figuren im Zentrum dieses südkoreanischen Romans setzt sich in Bewegung.
Lee Sung-Us "Das verborgene Leben der Pflanzen" ist ein komplexes Stück Literatur: In der Erzählgegenwart folgt ein Sohn heimlich der eigenen Mutter und kommt dadurch ihrem wohlgehüteten Geheimnis auf die Spur – einer tragischen Liebesgeschichte aus der Zeit der südkoreanischen Militärdiktatur, die von den 1960er- bis 80er-Jahren dauerte. Immer neue Rückblenden entschlüsseln so nach und nach die komplizierten Beziehungen der Figuren in der Gegenwart, unter anderem, warum die Mutter sich ausschließlich Ki-Hyeons älterem Bruder zugewandt hat.
Kleiner Verrat mit dramatischen Folgen
Die Familienkonstellation ist noch um einiges vertrackter. Ki-Hyeon hat Schuld auf sich geladen: Er liebt die Freundin seines Bruders und hat ihn deshalb verraten – ein kleiner Verrat nur, der aber große Folgen für den Bruder hatte: Er wurde zum Militär eingezogen und verlor dort beide Beine. Der Verrat hat seine Wurzeln aber nicht nur in einer unerfüllten Liebe, sondern eben auch in der Ignoranz, die die Familie Ki-Hyeon bis in die Gegenwart entgegenbringt. Die vier Mitglieder der Familie haben sich durch jahrzehntelanges Schweigen entfremdet. Für den jüngeren Sohn interessiert sich niemand.
Was ist das für ein Roman? "Das verborgene Leben der Pflanzen" ist für europäische Leser, die die jüngere Geschichte Koreas nicht parat haben, nicht leicht zu entschlüsseln. Zumal die politischen Hintergründe – im Gegensatz zu den Romanen vieler älterer Schriftstellerkollegen von Lee Sung-U – nicht einmal das eigentliche Thema sind. Lee, Jahrgang 1959, beschreibt eher, welche Langzeitfolgen die Militärdiktatur bis heute für das Leben und den Alltag der Menschen in Südkorea haben.
Leise Ironie und eine knappe, präzise Sprache
Auch die Ausgestaltung der erzählten Welt ist ungewöhnlich. Der prosaischen Realität stellt Lee Sung-U eine animistische, märchenhafte Gegenwelt gegenüber. Der Vater spricht zum Beispiel nur noch mit Pflanzen, der Bruder sehnt sich danach, ein Baum zu werden, eine Palme symbolisiert gleich mehrere große Lieben. Natur als Refugium – da droht Kitschgefahr. Aber Lee Sung-U schützt seine Geschichte davor durch leise Ironie und durch eine knappe, präzise Sprache, die umstandslos zwischen harten Wirklichkeitsbeschreibungen und poetischen Landschaftsbildern wechselt. Einige sperrige Formulierungen, die zum Teil wohl der Übersetzung anzulasten sind, fallen dabei kaum ins Gewicht.
Der koreanische Literaturprofessor Lee Sung-U geizt dabei nicht mit Referenzen an die Weltliteratur: "Das verborgene Leben der Pflanzen" ist auch eine Kain-und-Abel-Erzählung, eine Variante von Romeo und Julia, eine griechische Tragödie, ein Märchen, ein Krimi, eine utopische Parabel – ein kultureller Echoraum, in dem die doch ganz eigenständige Geschichte spielt.
Der Schluss ist dann fast operettenhaft, womit Lee Sung-U wohl weniger die Realität dieser südkoreanischen Familie spiegelt, sondern seine Hoffnung, dass Menschen sich einander öffnen und so vielleicht doch ihr kleines Eckchen vom Paradies abbekommen.

Lee Sung-U: Das verborgene Leben der Pflanzen
Unionsverlag, Zürich 2014
220 Seiten, 19,95 Euro

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