Roman

Kleinbürgerliche Höllenqualen

Von Meike Feßmann · 12.02.2014
Fast zwei Jahrzehnte schrieb Jessica Keener an ihrem Erstlingswerk: Die Geschichte einer Familie aus der Nähe von Boston, die eine Katastrophe auseinander reißt. Es gelingt ihr, diese Geschichte mit starken Bildern zu erzählen, die feine Machart ihres Romans überzeugt.
Sie spielt in den siebziger Jahren, diese Coming-of-Age-Geschichte eines jungen Mädchens, in einem Vorort von Boston, sieben Meilen vom Atlantik entfernt. Sarah Kunitz lebt mit ihren Eltern und drei Brüdern in einem großen Haus. Es sieht traumhaft aus, blaue Schindeln, Buntglasfenster, ein gepflegter Garten. Sechs Schlafzimmer beherbergt es, für jede Person eines.
Doch die Idylle ist von Anfang an gebrochen. Der Vater, ein nicht gerade einfühlsamer College-Professor für Englische Literatur, gebärdet sich zuhause, als wäre er auf dem Campus und will bewundert werden. Die Mutter, ein ätherisches Wesen, war einmal Geigerin. Nun hat sie Rheuma und steht ständig unter Schmerzmitteln. Beide trinken zuviel.
Ein explosives Gemisch
„Arthritis und Kinder“, antwortet die Mutter, wenn jemand sie fragt, warum sie das Geigenspielen aufgegeben habe. Sarah, die ihre Jugend aus der Rückschau erzählt, empfand das als verletzend. Ein Elternpaar, das nur mit dem eigenen Kummer beschäftigt ist, und vier Kinder, die damit zurechtkommen müssen, dass man ihnen nicht dabei hilft, einen Platz in der Welt zu finden, bilden das explosive Gemisch des Romans.
Er konzentriert sich auf den einen Sommer, in dem die Familie Kunitz, die ihr Judentum nur an hohen Feiertagen zelebriert, durch eine Katastrophe auseinander fliegt. Aber Sarah entdeckt auch die Freuden ihres Körpers. Mit dem ersten Sex (auf den die erste Abtreibung folgt) kann sie sich aus dem wackligen Gefüge ihrer Herkunft befreien.
Starke Bilder, fein ziseliertes Metaphernnetz
Jedes Kind findet seinen eigenen Modus, um sich in einem Haus zu bewegen, das einem großen Aquarium gleicht, aus dem nach und nach das Wasser abgelassen wird. Peter, der Älteste, liebt Rockmusik, spielt die Leadgitarre in einer Band. Auch Sarah liebt Musik, allen voran Joni Mitchell und Laura Nyro, die auch die Motti des Romans beisteuern. Sie wird Folksängerin, wie wir aus der Rahmenhandlung erfahren. Robert, drei Jahre jünger als die Erzählerin, liest wie ein Besessener Fantasy-Romane, nach genau ausgeklügeltem Plan. Die eindrucksvollste Figur aber ist Elliot, der Jüngste, ein liebenswürdiges Wesen voller Empathie. Von Geburt an lernt er, in den Stimmungen der Familie mitzuschwimmen.
Mit einem aquanautischen Metaphernnetz, dessen feine Machart man erst auf den zweiten Blick erkennt, bekommt Jessica Keener ihren ersten Roman, an dem sie achtzehn Jahre gearbeitet haben soll, gut in den Griff. Starke Bilder beschreiben, wie es sich mit einer Mutter lebt, die schon vor ihrem Tod abwesend war: „Wir waren Wesen, deren Lebensfäden mit etwas Amorphem verbunden waren, zu dem wir Mutter sagten.“
Die Vorstadt als Ort von Höllenqualen ist ein bewährter Topos des modernen amerikanischen Romans. „Schwimmen in der Nacht“ stellt ihn einmal nicht aus der Sicht von Erwachsenen dar, sondern aus der eines Kindes. Stilistisch kann man Jessica Keener nicht mit Richard Yates, John Cheever oder James Salter vergleichen. Thematisch aber ist ihr Roman eine interessante Ergänzung zu den großen Berserkern der amerikanischen Literatur.

Jessica Keener: Schwimmen in der Nacht
Verlag C.H. Beck, München 2014
332 Seiten, 19,95 Euro