Johanna Luyssen: "Wenn ich will"

Von der Freiheit, allein Mutter zu werden

05:46 Minuten
Portrait-Aufnahme der französischen Feministin, Journalistin und Autorin Johanna Luyssen
Für die französische Feministin, Journalistin und Autorin Johanna Luyssen ist Alleinerziehen eine Form der Selbstbestimmung. © Léonardo Kahn / DLF Kultur
Von Léonardo Kahn · 02.02.2022
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Johanna Luyssen hat ein Kind bekommen, ganz ohne Mann. Was das mit Selbstbestimmung zu tun hat, und warum Dating in Berlin die Hölle ist, darüber hat die französische Feministin und Journalistin nun ein Buch geschrieben.
Umzugskisten und Kinderspielzeug soweit das Auge reicht. Die Schriftstellerin Johanna Luyssen zieht in eine größere Wohnung nach Saint-Ouen, ein Kilometer nördlich vom Pariser Stadtviertel Montmartre. Seit über einem Jahr ist die französische Journalistin Mutter. In ihrem Debütroman "Si je veux", auf Deutsch "Wenn ich will" erzählt die Ende-Dreißigjährige, wie sie allein ihrem Kinderwunsch nachging. Die selbstbestimmte Mutterschaft sei Teil ihrer Emanzipation, erklärt die Schriftstellerin.
"Wir wurden in Frankreich durch Simone de Beauvoir stark geprägt. Die feministische Philosophin hat die Mutterschaft komplett abgelehnt und verachtet. Damals war das noch vollkommen berechtigt, doch heute sieht es anders aus. Wir haben diese Epoche noch nicht ganz verdaut, die Beauvoir-Zeit der 70er Jahre, in der eine Frau noch viel Mut brauchte, um zu sagen: Nein, ich will kein Kind."

Berlin ist freier als Paris

In ihrem Roman erzählt Johanna Luyssen, wie sie sich von ihrem Mann trennte und 2017 für ihre Arbeit nach Berlin zog. Die Korrespondentin lernte über diverse Dating-Foren die Stadt und ihre Bewohner kennen: Einen Komponisten aus Köln, eine israelische Akademikerin, einen Webdesigner aus Finnland. Tinder und OkCupid nutzte die Journalistin teils, um neue Partner und Partnerinnen zu finden, teils aus soziologischem Interesse, wie sie selbst schreibt. Sie fühlte sich in Berlin freier als in Paris.
Auch wenn sie die Stadt liebt und Deutschland ihre zweite Heimat ist, so scheut sie sich in ihrem Buch den deutschen Männern gegenüber vor keiner Kritik. Sie schreibt: Das Dating in Berlin, wo ich knapp vier Jahre gelebt habe, war die Hölle.
"Ich möchte keinesfalls verallgemeinern, und schon gar niemanden beleidigen. Trotzdem habe ich oft Folgendes erlebt: Ingos, Svens und Floriane, die sich vor einem Berg brüsten, den sie gerade bestiegen haben. Wenn sie sich am Meer in Szene setzen wollen, dann an der Ostsee, wo sie bei Sonnenuntergang ihren Blick über den Horizont schweifen lassen, um so den Eindruck zu vermitteln, sie würden gerade über den Sinn des Lebens meditieren - dabei zählen sie im Kopf nur das Pfand auf die leeren Fritz-Limo-Flaschen, die sie noch wegbringen müssen. Einige Deutsche legen großen Wert darauf, ihren Sportsgeist und ihre Naturverbundenheit zu zeigen. Das macht sie jedoch nicht zu zarteren Menschen."

Berliner Beziehungen sind sehr selbstbezogen

Johanna Luyssen zeichnet ein klischeebehaftetes Porträt der Berliner – Männer, die sich durch ihre Freizügigkeit und ihren hippen Umweltfanatismus profilieren. Obwohl die Autorin die Hauptstadt schätzt und Diskotheken wie den KitKat-Club regelmäßig besucht, wittert sie im Trend zur Polygamie und zu offenen Beziehungen eine Gefahr.
"In Berlin haben Beziehungen etwas sehr Individualistisches, Selbstbezogenes. Vielleicht liegt es daran, dass in Berlin jeder auf der Suche nach sich selbst ist. Es ist daher schwierig, sich auf dort romantisch zu verknüpfen. In der Tat führt mehr Freiheit nicht unbedingt zu besseren Beziehungen."

Das Stigma der Rabenmutter

Das Buch endet mit ihren Erfahrungen als alleinerziehende Mutter in Deutschland. Hier stieß sie auf noch mehr Schwierigkeiten als bei ihren Eskapaden bei der Partnersuche, denn sie musste sich für viele ihrer Entscheidungen rechtfertigen: Warum braucht sie während der Geburt eine Periduralanästhesie? Wieso möchte sie ihr Kind nicht stillen? Warum wollte sie als junge Mutter direkt nach der Geburt wieder arbeiten? Das Stigma der Rabenmutter lastet schwer auf deutschen Frauen. Im französischen Sprachgebrauch existiert eine derart brutale Bezeichnung für eine Mutter nicht. 
Die langen Wartelisten für einen Kitaplatz in Berlin waren einer der Gründe, warum Johanna Luyssen nach Paris zurückgezogen ist.
"Ich neige nicht zur Schwarzmalerei, doch ich habe wirklich schlechte Erfahrungen gemacht. Und ich weiß, dass ich nicht die Einzige bin. Die Zahlen sprechen für sich: In Deutschland bekommt nur jede fünfte Schwangere bei der Geburt eine PDA, hier in Frankreich jede Zweite. Geburt und Stillen sind in Deutschland Tabuthemen und leider hat sich der Diskurs rund um die Mutterschaft in den letzten Jahren kaum weiterentwickelt, da es weder eine politische noch eine mediale Debatte dazu gibt. Das Thema existiert sozusagen nicht."

Die ersten Worte zum Kind auf Deutsch

Heute arbeitet Johanna Luyssen als stellvertretende Chefredakteurin im Gesellschaftsressort von Libération, der Tageszeitung, für die sie knapp vier Jahre von Berlin aus schrieb. Auch wenn sie die Stadt aus einer feministischen Perspektive kritisiert, bleibt sie den Menschen dort und der Kultur sehr verbunden. Ihre ersten Worte zu ihrem Neugeborenen waren auf Deutsch. In ihrem Wohnzimmer hängt eine zwei Meter große Deutschlandkarte.
Das Interview endet abrupt. Die Autorin muss sich beeilen, denn sie muss ihre Tochter von der Kita abholen.

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