Roman

Im Bann der Kolonialgeschichte

Der Autor Paulo Scott, aufgenommen im Juli 2013.
Der Autor Paulo Scott, aufgenommen im Juli 2013. © picture alliance / dpa / Thomas Maier
Von Jörg Plath · 07.01.2014
Paulo Scott erzählt kraftvoll und glaubwürdig von den verheerenden Folgen der Liebe zwischen einem 21-jährigen Weißen und einer 14-jährigen Indianerin in Brasilien. Eine Geschichte von Begegnung und Schuld, die sich in jeder Generation wiederholt.
Agitprop ist Paulo Scotts Roman über das Fortleben der Gewaltgeschichte zwischen Weißen und Indios in Brasilien zwar nicht. Aber "Unwirkliche Bewohner“ wirkt sehr rau. Scott erzählt fast dokumentarisch, wozu auch gehört, dass seine Figuren ein spärliches Innenleben besitzen. Dennoch fasziniert das Buch über weite Strecken. Scott, 1966 in Porto Alegre geboren und in Rio de Janeiro lebend, marschiert in seinem vierten Buch nämlich ohne Zögern drauflos. Das Thema brennt ihm auf den Nägeln.
Scott erzählt von den verheerenden Folgen der Liebe zwischen einem 21-jährigen Weißen und einer 14-jährigen Indianerin. Maina will aus dem hoffnungslosen Camp der Indianer an einer großen Straße fliehen, Paulo, ein Studentenführer, flieht vor dem stalinistischen Machtwillen in der Arbeiterpartei. Ihre Liebe zerbricht, als sie sich bewähren muss: Maina ist schwanger, wehrt sich gegen die Hilfe, die Paulo ihr ohne zu fragen aufdrängt, und bricht die Beziehung ab. Paulo reist nach London und wird Hausbesetzer.
Maina bringt sich um, nachdem sie ihren dreijährigen Sohn einem Wissenschaftler, dem sie über Indianer forschen half, übergeben hat. Henrique zieht das indianisch aussehende Adoptivkind wie sein eigenes auf, Donato dankt es ihm mit Gefügigkeit.
Protest mit Schamanenmaske
Nach Henriques Unfalltod verführt er seine Stiefmutter. Diese Beziehung zwischen dem Halb-Indianer und der Weißen ähnelt der seiner Eltern, von denen ihm Luisa erstmals erzählt. Tief getroffen vom Selbstmord seiner Mutter protestiert Donato, unterstützt von einer faszinierten weißen Performancekünstlerin, mit einer Schamanenmaske gegen die Politik der Indianerbehörde, die er als Fortsetzung der Kolonialpolitik versteht. Dann taucht sein Vater Paulo auf.
All das würde für zwei oder drei Romane genügen. Der Autor treibt dem Geschehen jedoch jedes Sentiment aus und versucht dessen aberwitzige Umschläge gar nicht erst psychologisch zu motivieren. Mit wenigen Protagonisten spielt er in drei Jahrzehnten nach 1989 die von jeder Generation wiederholte Geschichte zwischen den Ureinwohnern des Landes und den Nachfahren der Kolonisatoren als Geschichte von Begegnung und Schuld, Verdrängung und Wiederkehr durch. Im Bann der Kolonialgeschichte werden sie alle zu "unwirklichen Bewohnern“ der Gegenwart.
Der Roman wird von Kapiteln im Präteritum eingerahmt, die in einer kleinen, an Fußnoten erinnernden Schrift gesetzt sind. Sie beglaubigen das schnelle, im Präsens erzählte Geschehen durch die letzten Worte einer Erzählerin, die behauptet, eben Donatos Maske zerstört zu haben. Ebenfalls wie Fußnoten sind einige Kapitel im letzten Viertel des Buches gesetzt, in denen ein "Subjekt“ und ein "Spektrum“ die Handlung kontrovers kommentieren, was wohl die Zerrissenheit Paulos und Donatos darstellen soll. Weder die Erzählerfiktion noch das bemühte Schielen auf Beckett hätte es gebraucht. Allerdings macht beides bewusst, wie kraftvoll und glaubwürdig der Roman ansonsten erzählt ist.

Paulo Scott: Unwirkliche Bewohner
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marianne Gareis
Wagenbach Verlag, Berlin 2013
252 Seiten, 19,90 Euro

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