Roman

Hitlers Agenten in London

Die Wachsfiguren von Winston Churchill (l.) und Adolf Hitler im Wachsfigurenkabinett Madame Tussauds in London
Die Wachsfiguren von Winston Churchill (l.) und Adolf Hitler im Wachsfigurenkabinett Madame Tussauds in London © picture alliance / dpa
Von Edelgard Abenstein · 09.06.2014
Eine wahre Geschichte diente Anna Funder als Vorlage für ihren neuen Roman. Es geht um eine Frau, die in den 30er-Jahren in London tot im Bett liegt. Angeblich war es Selbstmord. Vieles deutet darauf hin, dass die Gestapo ihre Hände im Spiel hatte.
Mit ihrem Debüt "Stasiland" (2004) wurde sie über Nacht berühmt. Auch im zweiten Buch der 1966 geborenen australischen Autorin Anna Funder geht es um deutsche Geschichte. Eine wahre Geschichte diente als Vorlage. Seit Hitlers „Machtergreifung" ist eine kleine Gruppe junger Linker aus Berlin auf der Flucht: Dora Fabian, Feministin, Geliebte und Mitarbeiterin Ernst Tollers, die Fotografin Ruth Blatt und ihr Mann, der Journalist Hans Wesemann, der Pazifist Berthold Jacob und die Sozialdemokratin Mathilde Wurm. Sie retten sich nach London, zu dem vor ihnen geflohenen Toller, treffen sich in Hinterzimmern, drucken Flugblätter, knüpfen heimlich Kontakte zu Politikern, um den Widerstand gegen Nazi-Deutschland zu organisieren.
Von der SA umstellte Wohnung
Funder erzählt aus zwei Perspektiven, oft im aktualisierenden Präsens. Einer der Erzähler ist Ernst Toller, der vor dem Freitod 1939 in einem New Yorker Hotelzimmer sein Leben niederschreibt. Die Vergegenwärtigungen der Novemberrevolution und der politischen Debatten in den 1920er-Jahre, für die sich Funder merkbar aus Tollers Autobiographie "Eine Jugend in Deutschland" und anderen seiner Schriften bedient, bleiben papieren. Doch im Zentrum der Erinnerungen steht Dora Fabian, die einst mit eiskalter Raffinesse seine Manuskripte aus der von der SA umstellten Wohnung rettete und sie außer Landes schmuggelte. Auch im Londoner Exil ließ sich Fabian nicht einschüchtern. 1935 fand man sie und eine Freundin tot im Bett auf. Angeblich war es Selbstmord. Vieles deutet darauf hin, dass die Gestapo ihre Hände im Spiel hatte.
Die andere Erzählstimme gehört der hochbetagten Ruth Blatt. Anna Funder lernte die Emigrantin mit der phantastisch klingenden Lebensgeschichte in den 1990er Jahren in Australien kennen. Soviel Nähe hat Vor- und Nachteile. Einerseits profitiert der Roman von der genauen Kenntnis des Emigrantenmilieus, er fängt die von Angst und ständiger Bedrohung geprägte Atmosphäre gut ein. Die historischen Passagen wirken authentisch. Andererseits fügen die Schilderungen aus Ruths Gegenwart und ihr Räsonnement über die Alzheimer-Erkrankung dem Roman nichts Wesentliches hinzu.
Hitlers Geheimagenten sind überall
Der Teil des Romans aber, der in London spielt, ist spannender als jeder Krimi. Hitlers Geheimagenten sind überall, verkleidet als perfekt englisch-sprechende Scotland-Yard-Beamte, Botschaftssekretäre, Hafenarbeiter. In London zu leben scheint fast so gefährlich wie in Deutschland. Wohnungen werden geplündert, Morde per Brief angekündigt. Am gefährlichsten sind die Spitzel in den eigenen Reihen.
In der Figur des Hans Wesemann gelingt der Autorin ein beeindruckendes Psychogramm. Der linke Journalist, berühmt für seine brillanten Hitler-Satiren, wird aus Angst, aus Geltungsdrang und weil er es nicht mehr erträgt, im fremden Land ein Niemand zu sein, zum Spitzel. Das ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, ungemein glaubwürdig in seiner Niedertracht – und doch ist es unfassbar, wie er seinen besten Freund in die Falle lockt, um ihn den Nazis auszuliefern. "Alles, was ich bin" ist ein mitreißender Dokumentarroman über die Exilszene im London der 30er-Jahre.

Anna Funder: Alles, was ich bin
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke,
S. Fischer, Frankfurt/Main 2014
428 Seiten, 19,99 Euro