Rolle des türkischen Militärs

"Ein Putsch schien eigentlich unwahrscheinlich"

Menschen in Istanbul stehen um und auf Panzern des türkischen Militärs. Im Hintergrund die Bosporus-Brücke.
Menschen in Istanbul feiern die türkischen Militärs. © AP
Kristian Brakel im Gespräch mit Ute Welty · 16.07.2016
Der Putschversuch in der Türkei sei überraschend gekommen, sagte Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Die Hintermänner vermute er auf der mittleren Führungsebene des Militärs: Dort habe es viel Unzufriedenheit mit Präsident Erdogan gegeben.
Kritische Beobachter der politischen Lage in der Türkei und er selbst seien eigentlich davon ausgegangen, dass ein Putsch nicht wahrscheinlich sei, sagte Kristian Brakel, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul und Islamwissenschaftler im Deutschlandradio Kultur:
"Erdogan, die AKP, hat es ja in den letzten Jahren geschafft, die Armee sehr stark zu entmachten. Und hat dann eigentlich im letzten Jahr, als die Offensive gegen die Kurden anfing, begonnen, auf die Armee mit Zugeständnissen zuzugehen. Es hat gerade erst ein neues Gesetz gegeben, das der Armee zum Beispiel Amnestie zugesteht beim Kampf gegen die Kurden – also dann auch, wenn sie starke Menschenrechtsverletzungen begehen. Das seien eigentlich Gesten, die geeignet waren, das Militär stärker an den Staatspräsidenten zu bringen."

Unzufriedenheit auf der mittleren Führungsebene des Militärs

Offenbar habe das nur auf der höheren militärischen Führungseben funktioniert, aber nicht auf der mittleren Führungsebene, so die Einschätzung von Brakel:
"Anscheinend gab es da mehr Unzufriedenheit, um die sich die Regierung anscheinend nicht gekümmert hat."
Berkel berichtete von über 700 Verhaftungen in der Türkei, unter anderem sei gerade der Admiral der Mittelmeerflotte festgenommen worden:
"Es sieht aber bisher so aus, dass die Personen, die wohl hinter dem Putsch stehen, größtenteils nicht aus der obersten Armeespitze kommen. Sondern dass es Obristen sind, also eine Stufe da drunter: Offiziere aus der mittleren Führungsebene."

Verhältnis zwischen Regierung und Militär in der Türkei

Berkel ging auch darauf ein, wie sich das Verhältnis von Regierung und Armee nach dem Putschversuch entwickeln werde. Präsident Erdogan hatte noch in der Nacht bei einer Pressekonferenz angekündigt, dass in der Armee aufgeräumt werden müsse:
"Wir wissen, dass Anfang August eine Sitzung des Obersten Militärrats vorgesehen gewesen wäre, auf der man ohnehin Säuberungsmaßnahmen hätte beschließen wollen. Es ist also gut möglich, dass die Putschisten versucht haben, gerade dies zu verhindern, dem zuvorzukommen. Ganz egal, welche Maßnahmen ergriffen werden: Es ist ganz klar, dass die Kontrolle über das Militär zunehmen wird."

Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Dramatische Szenen müssen sich in der vergangenen Nacht in der Türkei abgespielt haben. Offenbar hat es einen Putsch oder einen Putschversuch des Militärs gegeben. Es hat Schüsse und Explosionen gegeben, etliche Menschen sind verletzt worden. Und offenbar sind wohl auch mindestens 60 Tote zu beklagen. Die Ereignisse beobachtet unter anderem der Islamwissenschaftler Kristian Brakel, der die Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul leitet. Guten Morgen, Herr Brakel!
Kristian Brakel: Guten Morgen!
Welty: Die Darstellungen, die wir hier bekommen, die liegen zum Teil sehr weit auseinander. Die türkische Regierung sagt, die Lage sei weitgehend unter Kontrolle. Auf der anderen Seite heißt es zum Beispiel, der Flughafen in Istanbul sei in der Hand der Putschisten. Was ist Ihr Eindruck von der Situation?
Brakel: Ich bekomme natürlich auch nur Nachrichten aus zweiter Hand, irgendwie über die sozialen Medien. Mein Eindruck ist, dass der Flughafen Istanbul nicht von den Putschisten kontrolliert wird. Es gab wohl eine Armeepräsenz, die aber gestern Nacht, ich glaube, relativ früh schon, gegen zwei, drei Uhr ungefähr, wieder abgezogen ist. Also ich habe über zwei Ecken mit einer Person gesprochen, die am Flughafen fest saß. Der Präsident ist ja auch dort, ich glaube, ungefähr gegen vier Uhr türkischer Zeit mit seinem Privatflugzeug gelandet. Das spricht eigentlich alles dafür, dass es dort keine Kontrolle mehr gibt. In Istanbul ist die Lage größtenteils ruhig. Es hat vor ca. anderthalb Stunden noch vereinzelte Schusswechsel gegeben, jetzt hört man gar nichts mehr. In Ankara hingegen soll es noch militärische Operationen geben. Dort sind wohl auch die Putschisten noch in der Lage, mit Flugzeugen oder Hubschraubern den Kampf weiterzuführen.
Welty: Es heißt ja immer wieder, der Zeitpunkt des Putschversuchs sei gut gewählt gewesen. Der Staatspräsident war ja im Urlaub, bevor er in Istanbul gelandet ist. Viele Sicherheitskräfte seien schon im Wochenende gewesen am Freitagabend. Welche Nachrichten erreichen Sie über mögliche Hintermänner?
Brakel: Auch da ist vieles Spekulation. Es kamen jetzt in den letzten Minuten Nachrichten darüber, dass es Verhaftungen gegeben hat, eine ganze Reihe, über 700 vermutlich im ganzen Land, unter anderem der Admiral der Mittelmeerflotte ist gerade festgenommen worden. Es sieht aber bisher so aus, dass die Personen, die wohl hinter dem Putsch stehen, größtenteils nicht aus der obersten Armeespitze kommen, sondern dass es Obristen sind, also eine Stufe darunter, Offiziere aus der mittleren Führungsebene.
Welty: Würden Sie sagen, das war ein Putsch mit Ansage? Die türkische Regierung hat ja immer wieder davor gewarnt, dass es eines Tages so weit kommt.
Brakel: Ich muss sagen, und das müssen wir uns als Analysten, als externe Beobachter ein bisschen kritisch aufs Revers schreiben, wir sind alle davon ausgegangen, dass eigentlich ein Putsch nicht wahrscheinlich ist. Also Erdogan, die AKP hat es ja geschafft in den letzten Jahren, die Armee sehr stark zu entmachten, und hat dann eigentlich im letzten Jahr, als die Offensive gegen die Kurden anfing, begonnen, auf die Armee zuzugehen mit Zugeständnissen. Es hat gerade erst ein neues Gesetz gegeben, das das Parlament passiert hat, dass der Armee zum Beispiel Amnestie zugesteht beim Kampf gegen die Kurden, also auch, wenn sie schwere Menschenrechtsverletzungen begehen. Eigentlich alles Gesten, die geeignet waren, das Militär näher an den Staatspräsidenten zu bringen. Und ich denke, dass das auch in Teilen geklappt hat. Dafür spricht eben, dass anscheinend nicht die obersten Generäle verwickelt waren in diesen Putsch mit wenigen Ausnahmen, sondern dass das eben aus der mittleren Führungsebene kommt. Anscheinend gab es da mehr Unzufriedenheit, um die sich die Regierung anscheinend nicht gekümmert hat.
Welty: Was bedeutet das jetzt alles für das Verhältnis von Regierung und Armee? Lässt sich da eine Entwicklung schon abschätzen?
Brakel: Es ist unklar. Der türkische Staatspräsident hat ja gestern auf seiner Pressekonferenz gleich nach seiner Landung gesagt, dass man das Militär jetzt radikal säubern werde, etwas, was auch vorher schon geplant war. Der Präsident vermutet ja auch die sogenannte Gülen-Bewegung hinter diesem Putsch, die das abstreitet. Wir wissen, dass in Kürze, also Anfang August, eine Sitzung des Obersten Militärrats vorgesehen gewesen wäre, auf der man ohnehin Säuberungsmaßnahmen hätte beschließen wollen. Es ist also gut möglich, dass die Putschisten versucht haben, gerade dies zu verhindern, dem zuvorzukommen. Ich denke, ganz egal, welche Maßnahmen im Einzelnen ergriffen werden, es ist ganz klar, dass die Kontrolle über das Militär zunehmen wird. Und ich denke, dass prinzipiell auch es wahrscheinlich weitere Kreise ziehen wird. Die Paranoia, die es ja lange im Staatsapparat schon gegeben hat, die sieht sich natürlich jetzt oder da sieht sich die Regierung natürlich bestätigt, dass die immer recht gehabt hat, vor einem Putsch zu warnen. Und sie wird wahrscheinlich jetzt mit noch größerer Härte gegen alle politischen Gegner vorgehen, als das vorher schon der Fall gewesen ist.
Welty: Der Islamwissenschaftler Kristian Brakel leitet die Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, und er sprach mit uns über die möglichen Folgen des Putschversuchs in der Türkei. Herr Brakel, herzlichen Dank für dieses Gespräch und alles Gute für Sie, für Ihre Freunde und Mitarbeiter!
Brakel: Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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