Roland Kochs Provokation oder die soziale Marktwirtschaft neuerfinden

Von Mathias Greffrath |
Die Politik müsse endlich, so fordert Ministerpräsident Koch, die "notwendige Härte" aufbringen, um Arbeitslose, die das "angenehme Leben" mit Hartz IV wählen, "zur Abschreckung" auch zu "niederwertiger" Arbeit zu zwingen.
Die Reaktionen auf solche "brutalstmöglichen" Worte waren erwartbar. Koch, dieser Profi der populistischen Provokation, hat sie mit hoher Sicherheit einkalkuliert – selbst die Ordnungsrufe aus der eigenen Partei.

Auf den ersten Blick ist das Ganze ein Sturm im semantischen Wasserglas. Was Roland Koch fordert, ist längst Gesetz und Praxis: gut eine halbe Million Arbeitslose verrichten als Ein-Euro-Jobber gemeinnützige und daher mitnichten "niederwertige" Tätigkeiten. Mehr können, wollen oder dürfen die Kommunen und die Sozialverbände nicht beschäftigen.

Koch weiß das. Warum provoziert er so dumpf? Drei Deutungen bieten sich an. Die erste lautet: Taktischer Zynismus. Eingeklemmt zwischen Krise, Schuldenbremse und Steuergeschenken bleibt der Regierung, so Koch, zur Geldbeschaffung nur noch eine "Hartz IV-Reparatur", an deren Ende "die Gemeinschaft weniger aufbringen" muss. Und als notorisch böser Bube vernebelt er mit der Zwangsarbeitsrhetorik eine Strategie, die auf die Lockerung der Zuverdienstgrenzen bei Hartz IV zielt. Ohne eine Flankierung mit Mindestlöhnen, würde das aber den Elendslohnbereich und das staatlich ermunterte Lohndumping auf Dauer stellen.

Die zweite Deutung: nachhaltige Realitätsverweigerung. Die Wachstumsraten der Vergangenheit sind passé. So sickert es allmählich aus den Denkstuben der Wirtschaftswissenschaftler. Und das heißt: Das Leitmotiv dieser Regierung - "Wachstum, Bildung, Zusammenhalt" ist eher eine große Frage. Und die heißt: Wie können wir ohne Wachstum Zusammenhalt und Bildung sichern – und damit die Demokratie?

Und wie könnte ein christlicher Politiker – also einer, der an Gerechtigkeit orientiert ist; wie ein konservativer Politiker - also einer, der die Werte der Vergangenheit in die Zukunft tragen will; und wie ein bürgerlicher Politiker – also einer, der von der Würde und dem Bildungswert der Arbeit überzeugt ist – diese Frage beantworten?

Ich könnte mir da Einiges denken. "Wir müssen", so könnte ein solcher Politiker zum Beispiel sagen, "von dem Wachstum, das wir kannten, Abschied nehmen, der Natur wegen und um der globalen Gerechtigkeit willen. Aber wir wollen die Verwahrlosung von Jugendlichen und von Familien, die in dritter Generation von Wohlfahrt leben, nicht tolerieren. Wir werden nicht zulassen, dass junge Menschen weder qualifiziert sind, noch in Arbeit kommen. Wir müssen die nachhaltige Ghettoisierung deutscher Bürger ausländischer Herkunft beenden.

Und deshalb muss der Pakt zwischen Staat und Gesellschaft neu geschrieben, vor allem aber eingeübt werden. Ein Weg dazu – aber es gäbe auch andere - wäre ein allgemeiner obligatorischer Sozialdienst: ein Jahr nach der Schule, in dem junge Menschen unter qualifizierter Anleitung notwendige, nicht mehr finanzierbare Gemeinschaftsarbeit leisten – im Sozialen, in der Pflege, im ökologischen Umbau, in Pädagogik und im urbanen Raum. Ein solcher Dienst, bei dem junge Menschen gesellschaftliche Realität in einer Gemeinschaft erfahren und dabei berufliches, soziales und nicht zuletzt sprachliches Knowhow erwerben, wäre auch ein Schritt hin zu Vollbeschäftigung neuer Art: die Voraussetzung für eine allmähliche Umverteilung von qualifizierter Erwerbsarbeit – sprich eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung. Ein solcher hochwertiger Sozialdienst kostete pro Jahr rund 15 Milliarden, also etwa soviel wie die Steuersenkungen für Erben, Hoteliers und den oberen Mittelstand.

Die FDP würde auf eine solche konservative Provokation "Arbeitsdienst" rufen, die CDU "FDJ", die Grünen "Kontrollstaat", die Linken "oktroyierte Verelendung"; und was die SPD rufen würde, ist zur Zeit nicht klar. Die Gewerkschaften, die Sozialverbände, die kommunalen Kleinunternehmer würden wütend ihre Besitzstände verteidigen. Denn auch nur die Diskussion über wirklich einschneidende Umbauten unseres sozialen Gefüges machte endlich ernst mit der schwelenden Gewissheit, dass wir die soziale Marktwirtschaft für das 21. Jahrhundert wirklich neu erfinden müssen. Dazu gäbe es mit Sicherheit noch viele andere Wege als den eben herbeiphantasierten, aber Konservative vom Schlage Roland Kochs haben keine Visionen – außer der Bewahrung des Status Quo. Und deshalb ist er – und das ist die dritte Deutung – nicht einmal ein Provokateur. Sondern ein Lobbyist der größten Minderheit im Land: der Mittelschicht, die sich tot stellt und aus der Verantwortung flieht. Ein Lobbyist für uns.

Mathias Greffrath, Soziologe und Journalist, Jahrgang 1945, arbeitet für die "ZEIT", die "tageszeitung" und ARD-Anstalten über die kulturellen und sozialen Folgen der Globalisierung, die Zukunft der Aufklärung und über Theater. Letzte Veröffentlichungen: "Montaigne- Leben in Zwischenzeiten", und das Theaterstück "Windows - oder müssen wir uns Bill Gates als einen glücklichen Menschen vorstellen". Er lebt in Berlin.
Mathias Greffrath
Mathias Greffrath© Klaus Kallabis