Rogoff-Studie war "von vornherein wertlos"

Heiner Flassbeck im Gespräch mit Susanne Führer · 19.04.2013
Schulden über 90 Prozent vernichten das Wachstum - das ist das Ergebnis der Forschungspapiere von Carmen Reinhardt und Kenneth Rogoff. Doch offenbar gab es einen Rechenfehler in der Studie. Der frühere UNCTAD-Chefvolkswirt Heiner Flassbeck kritisiert nicht nur deshalb die These.
Susanne Führer: Wenn die Schulden eines Staates 90 Prozent seiner Wirtschaftsleistung übersteigen, dann wird es brandgefährlich, dann bricht nämlich das Wirtschaftswachstum ein. So behaupten es zumindest die amerikanischen Ökonomen Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart. Sie veröffentlichten ihre Studie vor drei Jahren und mitten in der weltweiten Schuldenkrise wurden sie damit sehr, sehr populär.

Auf dem heutigen Treffen der Finanzminister der G20 in Washington zum Beispiel wird auch der Vorschlag diskutiert werden, diese 90-Prozent-Marke festzuschreiben. Leider kam jetzt heraus: Die Studie enthält Fehler. Warum aber konnte diese Zahl so eine Karriere machen? Das will ich von dem Ökonomen Heiner Flassbeck wissen, er war bis Ende 2012 Chefvolkswirtschaft der UNO-Organisation UNCTAD. Guten Morgen, Herr Flassbeck!

Heiner Flassbeck: Guten Morgen!

Führer: Ja, 2010 wurde dieser Bericht von Rogoff und Reinhart veröffentlicht, und sehr schnell haben ja sehr, sehr viele diese 90-Prozent-Marke aufgegriffen. Warum eigentlich?

Flassbeck: Ja, aus einem einfachen Grunde, weil es gar keine einfache Regel geben kann. Deswegen war in meinen Augen diese Studie von vornherein wertlos. Es kann keine allgemeine Regel geben, aber wenn dann jemand sagt, oh, ich habe doch eine allgemeine Regel gefunden, dann stürzen sich natürlich ganz viele aus ideologischen Gründen darauf, weil sie dann sagen, oh, jetzt wissen wir ganz genau, bis zu dem Punkt darfst du und nicht weiter!

Aber diese Regel kann es eigentlich logischerweise gar nicht geben, und deswegen ist es für mich kein Wunder, dass jetzt auch noch Rechenfehler entdeckt wurden. Gut, das ist noch ein Zusatzargument, aber eigentlich war diese Studie sowieso aus theoretischen Gründen schon sinnlos.

Führer: Na ja, also, das kam ja sehr seriös daher, die haben ja über viele Jahrzehnte viele, viele Länder untersucht und das dann zusammengerechnet, mal abgesehen davon, dass jetzt, wir wissen es ja immer noch nicht genau, drei andere Volkswirte jetzt gesagt haben, dass sie eben Parameter, die nicht passen, einfach mit reingenommen haben, was ja häufig passiert, auch in medizinischen Studien.

Flassbeck: Ja, die Wirtschaft ist aber ein komplexes System, wo man nicht so einfach eine Größe nehmen kann und sie dann mit dem Gesamtergebnis vergleichen kann, das ist der theoretische Grundfehler dieser Studie, dass man sich einfach anschaut empirische Reihen und sagt, dann guck mal nach, nachdem der Staat höhere Defizite gemacht hat, ist das Wachstum zurückgegangen.

Ja, vielleicht war es genau umgekehrt, vielleicht ist das Wachstum zurückgegangen, und der Staat hat deswegen höhere Defizite gemacht! Schon die Kausalität ist völlig unklar! Wenn ich in eine Krise komme – und wir haben es ja erlebt –, 2008 war ja eine solche Krise, da sind plötzlich die Staatsschulden gestiegen in allen Ländern, aber doch nicht, weil der Staat Blödsinn gemacht hat und weil der Staat seine Schulden erhöhen wollte, sondern weil die Banken Blödsinn gemacht haben und gerettet wurden vom Staat und dann die Konjunktur einbrach und daraufhin der Staat wieder versucht hat, die Konjunktur zu stabilisieren, aber sie nicht destabilisiert hat, sondern sie tatsächlich stabilisiert hat. Wenn Sie jetzt die Statistik einfach angucken dieser relativ komplexen Zusammenhänge, dann sehen Sie vielleicht, ja, Sie finden eine Korrelation, die Staatsdefizite steigen und das Wirtschaftswachstum geht auch zurück. Aber es ist Blödsinn, trotzdem, es ändert nichts!

Führer: Herr Flassbeck, jetzt haben Sie sozusagen in Kürze Ihre Gegenstudie hier vorgetragen. Aber noch mal zurück zu dem Ausgangspunkt: Also, 2010 wird dieses Papier veröffentlicht, und sehr viele greifen das auf. Es war ja mitten in der Schuldenkrise, viele waren wahrscheinlich auch ratlos, was machen wir jetzt. Also, der Streit tobt ja bis heute eigentlich, sparen oder eben nicht? Und Sie haben jetzt so angedeutet, das haben dann diejenigen begierig aufgegriffen, die sowieso schon immer dieser Meinung waren?

Flassbeck: Ja, die schon immer sparen wollten, die den Staat da zurückdrängen wollten. Und für die war es nun schön, eine Handhabe zu haben sozusagen. Eine Zahl ist ja viel operationaler und viel einprägsamer als wenn man sagt, ja, staatliche Schulden können ja gefährlich sein. Das alleine ist natürlich viel weniger als wenn man sagt, aber ich weiß, bei 90 Prozent vom laufenden Einkommen …

Wir müssen ja auch immer denken, wir rechnen Schulden im Verhältnis zum laufenden Einkommen und nicht zum Vermögen, was man eigentlich müsste. Also, bei 90 Prozent im Verhältnis zum laufenden Einkommen, da wird es dann irgendwie gefährlich auf irgendeine geheimnisvolle Art und Weise. Denn man müsste ja eigentlich als Wissenschaftler auch die Mechanismen benennen, über die das passiert. Aber weil das so schön ist und weil es so angenehm war, gerade für diejenigen, die auch in Europa diese Krise – Sie haben es auch gesagt gerade – zur Staatsschuldenkrise umbenannt haben, die eigentlich nie eine Staatsschuldenkrise war, war es natürlich schön, dann zu sagen, ja, und guck mal, die Staatsschulden sind sowieso gefährlich, bei 90 Prozent müssen wir dann mit Gewalt und auf jeden Fall und ohne Bedingung kürzen, weil, ab da bricht die Wirtschaft zusammen!

Führer: Sie haben jetzt gerade Europa genannt, Herr Flassbeck. Wenn ich Sie richtig verstehe, dann ist, weil die Wirtschaft eben so ein komplexes System ist, es immer unsinnig, solche genauen Zahlen festlegen zu wollen? Also, bei Rogoff waren es 90 Prozent, sehen wir uns die Maastricht-Kriterien an, dann sind es 60 Prozent.

Flassbeck: Ja, die 60 Prozent sind auch vollkommen willkürlich. Wir müssen ja immer sehen, Sie sagten am Anfang Ihrer Anmoderation - und das ist ja das, was üblicherweise auch in der Öffentlichkeit diskutiert wird -, Schulden sind sowieso problematisch. Na ja, Schulden können problematisch sein, müsste man richtigerweise sagen, aber wir haben auch immer Ersparnisse in einer Volkswirtschaft, das müssen wir auch bedenken.

Solange es Ersparnisse gibt, muss es auch Schulden geben. Denn ohne Schulden gibt es keine Ersparnisse. Das müssten wir mal begreifen. Wenn wir den einfachen Zusammenhang schon begreifen, dann sehen wir auch, dass 60 Prozent keinen Sinn machen, denn 60 Prozent hängen ja auch von den Ersparnissen ab.

Wenn die Menschen viel sparen in einem Land, dann muss auch viel Schulden gemacht werden. Wer jetzt diese Schulden macht, ob es die Unternehmen sind oder der Staat, darüber kann man streiten. Aber dass irgendwer mehr Schulden machen muss, als wenn die Leute wenig sparen, ist völlig klar.

Und schon deswegen gibt es keine solchen einfachen Regeln. Und in Deutschland haben wir den wunderbaren Fall, dass wir die Ausländer zu Schuldnern gemacht haben, die letzten 10, 15 Jahre, das funktioniert jetzt auch nicht mehr. Jetzt müssen wir wieder fragen, ja, wer macht denn dann die Schulden in Deutschland, wenn die Deutschen so viel sparen? Wiederum die Unternehmen oder der Staat? Und da kann sich der Staat ja vollständig raushalten und schon sieht man wieder, eine einfache Regel kann es überhaupt nicht geben.

Führer: Sagt der Ökonom Heiner Flassbeck im Deutschlandradio Kultur. Herr Flassbeck, ich habe den Eindruck, dass diese Geschichte nicht nur zeigt, dass es keine einfache Regel geben kann, sondern auch zeigt, dass die Wirtschaftswissenschaften, anders als sie eben es so gerne möchten, keine exakte im Sinne von einer Naturwissenschaft ist, sondern sich durchaus zu den Geisteswissenschaften zählen muss, wo es um Interpretationen und Deutungen insgesamt der Welt und des Geschehens ankommt.

Flassbeck: Ich will mal noch ein bisschen radikaler sein: Dass selbst … Geisteswissenschaften würde ich ja schön finden, man muss oft schon Wissenschaft infrage stellen bei den Wirtschaftsmenschen sozusagen. Weil vieles eben blockiert, viel, das Denken wird häufig blockiert von einem ideologischen Überbau.

Wie in dieser Frage, die zeigt das wunderschön: Es gibt einen ideologischen Überbau, das ist Markt gegen Staat und der Staat muss klein gehalten werden, und der Markt muss stark sein. Und deswegen liebt man solche Zahlen dann, deswegen hat man diese Zahl geliebt, und deswegen liebt man andere Vorstellungen. Oder der flexible Arbeitsmarkt oder solche Dinge.

Es gibt da ideologische Blockaden zum Nachdenken, und das ist das eigentlich Gefährliche, dass man … Und wenn man dann, man kann das bei Rogoff und Reinhart sehr gut nachvollziehen, wenn man dann eine so wunderbare Zahl findet, von der man weiß, dass 90 Prozent aller Ökonomen und 95 aller Politiker darauf springen werden, dann ist man natürlich versucht, die zu veröffentlichen, weil es so schön klingt und einfach klingt und es eine einfache Handhabe gibt, die es in der Welt nicht geben kann, aber da fehlt eben das Wissenschaftliche an der Ökonomie. Es ist halt in vielen Teilen eher eine Religion als eine Wissenschaft. Ohne die Religionen beleidigen zu wollen!

Führer: Also, es geht um Glauben und nicht um Wissen, so meinen Sie es.

Flassbeck: Ja.

Führer: Aber diese ideologischen Blockaden, von denen Sie sprachen, die dürften ja nicht nur auf der einen Seite vertreten sein! Also, ohne Ihnen jetzt persönlich nahetreten zu wollen, wir haben die doch alle! Also, man müsste doch den Ideologieverdacht immer in erster Linie gegen sich selbst richten oder die Wissenschaftswissenschaften müssten sozusagen eine Art, ich weiß auch nicht, was, so eine Art Supervisionsverfahren einrichten, um dem auf die Schliche zu kommen!

Flassbeck: Das müsste man in der Tat haben. Man müsste vor allem versuchen, mehr Diskussion zustande zu bringen. Sie haben heute die Tatsache, und das finde ich einen Skandal, an manchen Universitäten haben Sie zehn Lehrstühle in Volkswirtschaftslehre, und alle predigen die gleiche Lehre. Warum haben Sie nicht zwei, die eine kritische Position einnehmen, also eine Position wie ich, eine keynesianische oder was auch immer, auch die sind natürlich nicht vor Glaubenssätzen gefeit, das ist gar keine Frage, aber man kann es ja überprüfen!

Man kann ja kritisch herangehen, man kann es sich anschauen, ist manchmal nicht einfach, weil die Dinge eben relativ komplex sind und man sich dann in die Ökonomie einarbeiten muss als Außenstehender sozusagen, aber ich halte es für absolut notwendig. Weil, es sind ja unglaublich wichtige Fragen und ganz zentrale Fragen unseres Lebens. Und die meisten Ökonomen stellen sich eben nicht sozusagen jeden Tag diesem Wettbewerb, und das müsste man eigentlich einfordern!

Führer: Ich habe ja den Eindruck, auch wenn jetzt die Ergebnisse dieser Rogoff-Studie, also diese berühmten 90 Prozent Schuldengrenze jetzt tatsächlich endgültig widerlegt werden sollten - so ganz genau wissen wir es ja noch nicht, wir wissen ja nur, dass drei andere Volkswirte nachgerechnet haben und Kenneth Rogoff Rechenfehler eingeräumt hat, aber die methodischen Fehler hat er ja noch nicht eingeräumt –, also, mal angenommen das wird jetzt wirklich vom Tisch gewischt und man sagt also, falsch: Damit wird doch aber der Streit um den richtigen Weg aus der Schuldenkrise wahrscheinlich nicht beigelegt werden, oder?

Flassbeck: Ja, schon …

Führer: Die Lager werden sich doch weiterhin gegenüberstehen?

Flassbeck: Ja, ja, klar, aber wiederum müssen wir dann fragen, was ist die Schuldenkrise? Gibt es wirklich eine Schuldenkrise oder gibt es eine Ersparniskrise, oder was ist das eigentlich?

Führer: Gut, also den Weg aus der Krise.

Flassbeck: Ja, aber diese Frage diskutieren wir ja schon nicht. Sehen Sie, man kann wie gesagt Schulden nur im Zusammenhang mit Ersparnis diskutieren. Wenn die einen das Geld zur Bank tragen, muss es jemand geben, der es von dort nimmt.

Man kann sich wunderschön eine Welt vorstellen, in der der Staat keine Schulden macht, aber da muss jemand anders die Schulden machen. Und das können nicht immer die Ausländer sein, so wie es bisher in Deutschland war …

Führer: Aber Herr Flassbeck, entschuldigen Sie, meine Frage zielte auf eine andere Ebene: Dass sozusagen, auch wenn jetzt so eine Studie falsifiziert wird, sich trotzdem der Streit zwischen den, nennen wir sie mal, ideologischen Lagern dadurch nicht ändern wird! Also, das …

Flassbeck: Nein. Aber ich will ihn ja gerade ein bisschen öffnen, ich will sagen: Wir müssen doch wenigstens aufhören, nur über Schulden zu reden! Wenn wir das schon mal machen würden, wenn wir den Sprung schon mal machen würden, dass wir über makroökonomische Buchhaltung reden, also über Ersparnis und Schulden, statt nur über Schulden, dann hätten wir schon einen großen Schritt getan. Aber das wird wahrscheinlich wieder nicht passieren.

Sie werden es erleben, dass Herr Schäuble und Frau Merkel immer noch über Schulden des Staates reden als das Böse schlechthin, ohne über die Frage zu reden, ja, was machen wir eigentlich mit unseren Ersparnissen? Aber ohne diese Frage ist alles sinnlos. Und diese Frage haben Rogoff und Reinhart nicht beantwortet, und die wird auch in Zukunft nicht beantwortet werden, weil man sich dieser unangenehmen Frage nicht stellen will. Und das ist wieder eine ideologische Blockade.

Führer: Das sagt der Ökonom Heiner Flassbeck, er war bis Ende 2012 Chefvolkswirt der UNCTAD, der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung, und ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch, Herr Flassbeck!

Flassbeck: Ja, bitte sehr!

Führer: Tschüss!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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