Rockefeller, Banker, Palästinenser-Unterdrücker

Avi Primor im Gespräch mit Joachim Scholl · 05.05.2010
"In Deutschland hat mich am meisten die Beschuldigung gestört, die Juden und die Israelis würden Deutschland ausbeuten, sie würden den Holocaust als Gewinn nutzen", sagte der ehemalige israelische Botschafter Avi Primor. Er ist Mitautor des Buches "An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld" über antisemitische Klischees.
Joachim Scholl: Er war und ist ein intellektuelles Aushängeschild seines Landes: Avi Primor. Von 1993 bis 1999 war er der Botschafter Israels in der Bundesrepublik, und von ihm kamen stets klare, auch kritische Worte in Richtung seiner Heimat durchaus, was nicht immer gut ankam. Inzwischen ist Avi Primor ein Gelehrter, ein Schriftsteller ist er schon länger, und in seinem neuesten Buch widmet er sich deutsch-jüdischen Missverständnissen und den vielen antisemitischen Vorurteilen, die sich hartnäckig halten. Avi Primor, willkommen im Radiofeuilleton!

Avi Primor: Danke, guten Morgen!

Scholl: "An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld", haben Sie Ihr Buch genannt. Der Titel entspringt einem jüdischen Witz. Erzählen Sie uns ihn?

Primor: Ja, ein Witz aus den 30er-Jahren, wo man in der offiziellen Propaganda die Juden mit allem beschuldigt hat und da haben ein paar Nazi-Raufbolde einen alten Juden angegriffen und sagen, na, sag mal jetzt, wer ist an allem schuld? Dann sagt er, an allem sind die Juden und die Radfahrer schuld. Dann fragen sie überrascht, warum die Radfahrer? Da sagt er, und warum die Juden? Also – genauso lächerlich ja.

Scholl: Welches Vorurteil ist Ihnen persönlich, Herr Primor, in Ihrer Zeit vielleicht auch als Botschafter am häufigsten begegnet hier in Deutschland?

Primor: Ach, in Deutschland – was mich am meisten gestört hat, war die Beschuldigung, die Juden würden die ... die Juden und die Israelis würden Deutschland ausbeuten, die würden den Holocaust als Gewinn benutzen. Und deshalb habe ich auch so einen (…) (Anm. d. Red.: Schwer verständlich im Hörprotokoll) gehabt: Auschwitz war eigentlich ein wunderbares Unternehmen für die Juden, daran haben sie Geld verdient und verdienen bis heute Geld – was natürlich ein Absurdum ist. Ich muss noch mal eine Sache sagen: Sie haben mehrfach von den Vorurteilen gesprochen, die ich nenne und die ich versuche, zu widerlegen, aber insgesamt habe ich auch ein Kapitel in dem Buch, in dem ich feststelle, dass der Antisemitismus nicht zunimmt.

Scholl: Darauf kommen wir, Herr Primor, aber lassen Sie uns erst mal bei den Vorurteilen bleiben. Sie gehen in Ihrem Buch ganz konkret auf diese los, Vorurteil eins, heißt es da in der Überschrift, Vorurteil zwei. Schauen wir mal auf Vorurteil vier: Alle Juden sind so reich wie Rockefeller. Ich meine, dieses Klischee ist wirklich anscheinend nicht aus der Welt zu schaffen und auch schon anscheinend international. Warum eigentlich?

Primor: Das ist traditionell. Die Juden sind gute Geschäftsleute, die Juden sind gute Kaufsmänner, die Juden sind reich, die Juden sind Bankiers. Ich weiß nicht, welche Bank heute noch den Juden gehört, außer halb Israel vielleicht (Anm. d. Red.: Schwer verständlich im Hörprotokoll). Es gab noch eine in Köln und die ist auch schon mehr oder weniger verschwunden, aber ... in Amerika gibt es auch kaum, aber irgendwie ist das so entstanden: Es gab die Rothschilds und jetzt sind alle Bankiers Rothschilds und alle Bankiers sind Juden. Nicht, dass es unbedingt zum Antisemitismus bringt – ja, ich habe sogar Leute, Freunde, die ich in Deutschland kenne, die mir sagen, na ja, die Juden sind ja so tüchtig und die sind solche wunderbaren Geschäftsleute und so, und die sind überhaupt keine Antisemiten, im Gegenteil. Aber irgendwie entstehen solche Sachen. Allerdings gibt es ja Vorurteile in allen Richtungen, gucken Sie mal in Deutschland, die Bayern, die Preußen.

Scholl: Diese Ressentiments machen ja aber auch nicht viel aus, also wenn es antijüdische Ressentiments sind, sind die auch verbunden sozusagen mit einer Art von Stimmungen – wir haben die Geschichte eben im Rücken. Ein weiteres gängiges Vorurteil, das Sie analysieren, Herr Primor, ist zum Beispiel auch: Der unabhängige, amerikanische Präsident ist nur eine jüdische Tarnung, sprich, die einflussreichen amerikanischen Juden beherrschen Amerika. Das ist nun die politische Note, die schon ein bisschen gefährlicher ist und vermutlich auch gerade Sie als israelischer Botschafter werden diese oft gehört haben.

Primor: Ja, da gibt es natürlich in Amerika die Beschuldigungen, die Juden würden die amerikanische Politik so führen, dass sie immer zugunsten Israel geführt wird, und es gab sogar ein Buch, das behauptete, die jüdische Lobby hätte dazu gebracht, dass die Amerikaner den Krieg im Irak entzettelt haben zugunsten Israel und so, wobei: Die Meinungsumfragen in Amerika deuten und deuteten immer ganz klar darauf hin, dass die meisten Juden gegen den Krieg im Irak waren und dass die sowieso darauf keinen Einfluss hatten. Es gab ganz andere Schichten der amerikanischen Bevölkerung, die den Krieg haben wollten, und nicht unbedingt die Juden. Aber das ist auch so ein Teil des Mythos. Und ich sage: Es gab eine Zeit, in der die Amerikaner uns überhaupt nicht unterstützt haben, keineswegs, zwischen 1948, als der Staat Israel unabhängig geworden ist, und bis auf den Sechstagekrieg 1967, also fast 20 Jahre lang. Da gab es weder politische noch militärische noch wirtschaftliche Unterstützung seitens Amerika. Und es gab sogar Zeiten, in denen Amerika feindselig gegenüber Israel war, zu Zeiten des Präsidenten Eisenhowers. Wo waren die Juden damals? Von denen hat man damals überhaupt nichts gehört und die haben überhaupt keinen Einfluss gehabt. Die Juden wollen zunächst einmal gute amerikanische Patrioten sein und als solche betrachtet werden. Wenn Amerika sich entscheidet wie nach 1967, dass Israel ein strategisches Interesse für Amerika ist, dann kommen sie raus und sagen, na wunderbar, dann unterstützen wir Israel und sind auch dabei gute amerikanische Patrioten. Aber man darf auch nicht vergessen: Es gibt fünf Millionen Juden in Amerika und 300 Millionen Einwohner, und auch nicht alle fünf Millionen Juden interessieren sich unbedingt für Israel – kaum die Hälfte.

Scholl: Vorurteile gegen Juden, antisemitische Ressentiments – darüber hat Avi Primor, der frühere israelische Botschafter, ein Buch geschrieben. Avi Primor ist bei uns im Deutschlandradio Kultur zu Gast. Herr Primor, nun haben wir uns als aufgeklärte Gesellschaft angewöhnt, antisemitische Vorurteile oder Ressentiments einer verhältnismäßig kleinen Gruppe von uneinsichtigen Dummköpfen zuzuweisen, die keinesfalls relevant ist. Täuschen wir uns da?

Primor: Also, Antisemiten gibt es in Deutschland immer weniger, darunter auch Dummköpfe, ziemlich viele, nicht alle allerdings, leider. Wenn Sie alle nur Dummköpfe gewesen wären, wäre es überhaupt kein Problem gewesen. Es gibt auch sogenannte Intellektuelle, die immer noch dran glauben, aber es gibt ja so Leute, und zwar intellektuelle Leute, die auch den Holocaust leugnen und natürlich haben sie ihre Gründe dazu. Ich glaube, das, was sie wirklich im Sinn haben, ist, dass sie es bedauern, dass der Holocaust nicht vollendet wurde. Das ist eigentlich ihr Problem. Und insofern gab es keinen Holocaust, weil jetzt die Juden noch immer da sind. Aber was das Wichtigste für mich ist: Ich weiß nicht, wie viele Deutsche in den 20er-Jahren Antisemiten waren, ich bin nicht sicher, dass es die Mehrheit war, im Gegenteil. Auch die Nazis haben nie die Mehrheit in den Wahlen erlangt und wenn, dann war es auch nicht wegen Juden oder wegen Antisemitismus, es gab ganz andere Gründe hinzu. Was damals geschah in Deutschland, war, dass die Mehrheit – und nicht nur in Deutschland – allerdings demgegenüber, dem Antisemitismus gegenüber, gleichgültig war. Man hat darüber nicht gesprochen, man hat sich dafür nicht interessiert. Was geht es mich an? Ich bin kein Jude, nicht mein Problem. Und heute ist man demgegenüber sehr empfindlich geworden. Man berichtet darüber, die Medien berichten über antisemitische Vorfälle und antisemitische Vorurteile, und das hat eine ganz andere Stimmung geschaffen und das, glaube ich, ist gut, weil wenn die Mehrheit der Bevölkerung sich dem widersetzt, dann ist das Problem nicht wirklich gefährlich.

Scholl: Nun haben Sie und Ihre Co-Autorin Christiane von Korff aber auch dieses Vorurteil untersucht, Sie haben es vorhin schon angesprochen: Der antisemitische Phoenix steigt wieder aus der Asche. Das tut er Ihrer Meinung nach nämlich nicht. Für Juden allerdings, schreiben Sie, sei der wiedererwachte Antisemitismus eine unumstößliche Gewissheit, und Sie wollen dieser Gewissheit ja die Gewissheit nehmen. Warum eigentlich, Herr Primor? Ist es nicht besser, einmal mehr zu warnen als zu wenig oder die Augen zu schließen?

Primor: Wenn man damit übertreibt, dann wird man demgegenüber gleichgültig, ja, wenn man jeden Tag darüber hört und es immer gibt und so, dann gewöhnt man sich dran, dann sagt man, na gut, das ist Teil des Lebens. Nein, man muss es richtig machen und die Wahrheit erzählen und nicht damit übertreiben. Aber wir müssen ja sehen: Ich habe sehr lange nachgeforscht anhand von verschiedenen Forschungen und Meinungsumfragen und bin zur Schlussfolgerung gekommen, dass der Antisemitismus regelrecht zurücktritt, geht langsam, schrittweise, aber immer zurück und er wächst nicht. Warum glauben alle, nicht nur die Juden, dass der Antisemitismus wieder wächst? Da gibt es verschiedene Gründe. Zum einen ... Also, zunächst einmal muss man klipp und klar sagen, dass es den Antisemitismus immer noch gibt, er ist nicht verschwunden. Er ist nur geringer geworden, und je jünger die Bevölkerung, desto weniger antisemitisch ist sie. Nur bei ... in den älteren Schichten der Bevölkerung findet man mehr. Aber es gibt drei Sachen: Erstens gibt es auch einen neuen Antisemitismus in Europa, nicht unbedingt in Deutschland, in Europa, das ist der islamische Antisemitismus, also nicht die traditionellen Europäer, sondern die Zuwanderer, die einen Antisemitismus aus der islamischen Welt mit sich gebracht haben oder die wegen des Nahostkonflikts aufgewühlt sind und dann, weil sie keine Israelis angreifen können, greifen sie manches Mal Juden an und da kommt der Aufschrei und man sagt, Juden werden wieder angegriffen und Synagogen in Brand gesteckt oder so. Die zweite Sache ist, dass man zunehmend die israelische Politik in den besetzten Gebieten kritisiert, und viele Juden, die sehr empfindlich sind – und Israelis ganz bestimmt –, betrachten das als Antisemitismus und sagen, das ist keine sachliche Kritik, das ist Antisemitismus. Ich halte das für falsch. Wenn man uns kritisiert, dann muss man sich mit der Kritik auseinandersetzen und versuchen, sie zu widerlegen, aber das ist wiederum eine andere Debatte. Und die dritte Sache ist die, die ich schon erwähnt habe, dass eine Empfindlichkeit herrscht dem Antisemitismus gegenüber. Es wird sehr viel darüber berichtet und deshalb meinen die Leute, dass der Antisemitismus überall lauert und in Wirklichkeit stimmt das gar nicht. Die Tatsache ist, dass Juden in Europa, Juden in Deutschland heute ganz total normal leben können wie jeder andere, es gibt keine Schranken und keine Barriere, und was man mal Antisemitismus nannte, wo die Juden in die Ecke gedrängt wurden, das existiert heute nicht mehr.

Scholl: Avi Primor, ich danke Ihnen für Ihren Besuch, alles Gute für Sie, und: Das Buch von Avi Primor und Christiane von Korff "An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld", das ist im Piper Verlag erschienen.