175. Geburtstag R. L. Stevenson

Mit der "Schatzinsel" zu Weltruhm

Ein Mann mittleren Alters mit Schnurrbart und Zigarette in der Hand blickt direkt in die Kamera.
Robert Louis Stevenson im Jahr 1868. © IMAGO / opale.photo
1850 wurde im schottischen Edinburgh einer der einflussreichsten britischen Schriftsteller geboren: Robert Louis Stevenson. Seine ambivalenten Charaktere und die Lebendigkeit und Bildkraft seiner Werke faszinieren bis heute.
„Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste – Jo-ho-ho, und ne Buddel voll Rum“. Fast jeder kennt dieses Piraten-Shanty, das Robert Louis Stevenson mit seinem Roman „Die Schatzinsel“ weltberühmt gemacht hat. Dabei handelt es sich in Wahrheit gar nicht um ein historisches Matrosenlied. Stevenson hatte es eigens für seinen Roman frei erfunden.
Stevensons bekannteste Werke „Die Schatzinsel“ und „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ waren geradezu genreprägend für Abenteuer- bzw. Schauerliteratur und wurden schon zu seinen Lebzeiten zu Verkaufsschlagern.
Doch Stevenson war auch Verfasser von zahlreichen Reiseerzählungen, historischen Romanen, Essays, Kindergedichten und Balladen. Bis heute ist Stevensons Strahlkraft zu spüren, und das nicht nur in der Bücherwelt. Auch in Piraten-, Abenteuer- und Horrorfilmen und in der allgemeinen Popkultur haben Stevensons literarische Themen deutliche Spuren hinterlassen. Was macht die andauernde Wirkung seiner Werke aus?

Lungenleiden mit Folgen

Stevenson wurde 1850 in Edinburgh als Sohn des Leuchtturmingenieurs Thomas Stevenson und Margaret Isabella Balfour geboren. Seit seiner Kindheit litt er unter chronischen Lungenproblemen, die ihn oft wochenlang ans Bett fesselten. Er flüchtete sich in fremde Welten, die er mit seinem geliebten Spielzeugtheater visualisierte und schrieb schon als Kind zahlreiche Geschichten und Aufsätze.
Obwohl ihm schon in seiner Kindheit klar war, dass er Schriftsteller werden wollte, folgte Stevenson zunächst der Tradition der väterlichen Seite seiner Familie und studierte Ingenieurwesen. Nach kurzer Zeit wechselte er zu Jura, vermutlich aus gesundheitlichen Gründen. Mit 25 Jahren wurde er Advokat. Seine Leidenschaft fürs Schreiben ließ ihn nicht los. Er notierte einmal: „Schreiben bedeutet für den erwachsenen Mann das, was einem Kind das Spielen ist.“

Weltreisender auf wackligen Beinen

Schon als Kind besuchte Stevenson mit seinen Eltern zahlreiche Bäder und Heilanstalten überall in Europa, unter anderem auch in Deutschland. Später durchwanderte er Schottland und England, bereiste mit einem Kanu Nordfrankreich und Belgien, durchstreifte 1878 mit einem Esel die Cevennen, besuchte Davos im Winter und die Cote d'Azur im Frühling.
Stevenson überquerte mit einem Einwandererschiff den Atlantik, reiste mit Eisenbahn und Postkutsche quer durch die USA und segelte mit einer Schonerjacht zwei Jahre lang durch die Südsee, wo er sich schließlich 1890 mit seiner Familie auf Samoa niederließ.
Ganz gewiss suchte der lebenslustige Stevenson auf seinen Reisen Romantik und Abenteuer, aber sein innerer Antrieb war ein anderer: Er lief Zeit seines Lebens seiner Krankheit davon. Von Gegenden mit einem milderen Klima als dem schottischen erhoffte er sich Linderung seines Lungenleidens. Er war, wie der Schriftsteller Klaus Modick in einem Radioessay zu Stevensons 150. Geburtstag sagte, „ein Weltreisender auf wackligen Beinen, dessen Reisen einer beständigen Flucht vor dem Gefängnis des Krankenlagers gleichkamen und der sich von Abenteuer zu Abenteuer schleppen musste.“

Internationaler Durchbruch: "Die Schatzinsel"

Als Stevenson die Arbeit an „Die Schatzinsel“ begann, war er Ende zwanzig. Er hatte zwar über Jahre hinweg zahlreiche Kurzgeschichten verfasst, aber noch keinen gewinnbringenden Roman veröffentlicht und war auf die finanzielle Unterstützung seines Vaters angewiesen.
Mit seinem 1881 und 1882 in Fortsetzungen in der Jugendzeitschrift „Young Folks“ veröffentlichten Erstlingsroman änderte sich Stevensons Leben grundlegend, und auch sein Kindheitstraum ging mit einem Mal in Erfüllung. Denn als das vollständige Buch 1883 bei Cassel & Company in London erschien, war es ein sofortiger Bestseller.
Ursprünglich hatte Stevenson sein Erfolgsbuch als „Geschichte für Jungs, ohne viel Psychologie oder feinen Stil“ vorgesehen. Er konnte nicht ahnen, dass „Die Schatzinsel“ für die nächsten hundert Jahre die Blaupause für Piratengeschichten und -filme werden sollte. Das Buch wurde über zwanzig Mal verfilmt und ein gutes Dutzend Mal ins Deutsche übertragen.
Ein lächelnder, schlanker Mann mit Schnurrbart.
Robert Louis Stevenson um 1890.© picture alliance / opale.photo / Darchivio

Zeitloser Schreibstil

„Die Schatzinsel“ ist Abenteuerroman und Weltliteratur, ein populäres Buch für Menschen aller Schichten und Bildungsstufen. Es besticht durch einen Realismus, den Stevenson einmal so umschrieb: "Der Realismus, den ich schätze, ist ein Realismus des Denkens: dass nicht nur alles an einer Geschichte sich ereignet haben könnte, sondern auch ganz selbstverständlich aufgezeichnet worden sein könnte – ein Realismus, der sowohl das Buch selbst rechtfertigt als auch die Geschichte, die es festhält."
Schon mit der "Schatzinsel" bewies Stevenson, dass er ein Meister der Charakterzeichnung war. Seine Romanfiguren sind komplex, niemand ist hier nur gut oder böse. Auch nicht der Pirat Long John Silver, der als charismatischer Schurke zur literarischen Vorlage für Piratenfiguren von Captain Hook bis Jack Sparrow wurde.
Die Spannung entsteht bei Stevenson durch den sprachlichen Realismus, die lebendige Charakterzeichnung und vor allem durch die ständige Unsicherheit über den "wahren Kern" seiner Figuren. "Der Herzschlag der Schatzinsel entsteht durch Ambivalenz", sagte die Journalistin und Autorin Peggy Neidel 2013 treffend im Deutschlandfunk.
Darstellung eines einbeinigen Piraten mit Papagei auf der Schulter.
Long John Silver wurde zum Archetypen des charismatischen Piraten.© picture-alliance / Mary Evans Picture Library
Nur wenige Jahre später trieb Stevenson diese Ambivalenz auf die Spitze, mit seinerSchauernovelle "Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde". Auch die Geschichte über den Wissenschaftler, der einen Trank entwickelt, mit dessen Hilfe er sich in sein bösartiges alter ego verwandeln kann, war direkt ein großer Erfolg. Die spannende Parabel thematisiert die Zerrissenheit des Menschen zwischen seinen Moralvorstellungen und seinen Trieben und gilt heute als der literarische Inbegriff einer multiplen Persönlichkeit.
Eine Illustration mit der Übrschrift "Dr. Jekyll & Mr. Hyde" zeigt zwei Männer und eine weitere, gruselige Figur.
Eine zeitgenössische Illustration von "Dr. Jekyll und Mr. Hyde". © picture alliance / Bildagentur-online / UIG

Am Ziel seiner Reise

Nach einer zweijährigen Reise durch die Südsee mit einem Aufenthalt in Australien fand Stevenson endlich seinen Traumort: die Insel Samoa. 1890 siedelte er mit seiner Familie endgültig dorthin über. Nur kurze Zeit später brach dort ein Bürgerkrieg aus. Stevenson versuchte, zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln. Aber die weißen Kolonialherren schürten die Auseinandersetzungen und führten eine Schmutzkampagne gegen Stevenson.
Seine Frau Fanny berichtet, wie ihr Mann in dieser Zeit immer wieder von seiner Arbeit abgehalten wurde. Verschiedene Kriegsparteien suchten Zuflucht bei den Stevensons, Häuptlinge fragten um Rat. Stevenson ritt oft durch den Urwald, um Verwundete zu versorgen. Mitten in diesem letzten großen Abenteuer starb er plötzlich mit nur 44 Jahren. Am 3. Dezember 1894 fiel Stevenson auf der Veranda seines Hauses um und war tot. Die Diagnose: Hirnblutung.
Eine europäisch aussehende Familie zusammen mit samoanischen Ureinwohnern auf einer Veranda.
Robert Louis Stevenson (Mitte, sitzend) mit seiner Familie auf seinem Anwesen in Vailima, Samoa.© picture-alliance / Mary Evans Picture Library
Bis zum Schluss war er seiner großen Leidenschaft gefolgt und hatte an einem Roman und Gedichten gearbeitet. Bei seinem Tod hinterließ Stevenson unter anderem eine Sammlung von 44 Gedichten mit dem Titel "Songs of Travel". Neun dieser Reiselieder vertonte Ralph Vaughan Williams zwischen 1901 und 1904 zu einem Liederzyklus, der heute zu den beliebtesten des englischen Repertoires zählt.
In einem Brief an den schottischen Pädagogen John Meiklejohn schrieb Robert Louis Stevenson einmal: "Geschichten sind es, die wir wollen, nicht die hohe poetische Kunst, die die Welt darstellt. Wir wollen unerhörte Begebenheiten, Spannung, Handlung." Diesem Prinzip ist Stevenson in all seinen Werken treu geblieben, und sein anhaltender Erfolg gibt ihm Recht: Seine Romane und Erzählungen werden bis heute immer wieder neu aufgelegt und übersetzt.

Philipp Jedicke