Robert-Koch-Institut hält zweite Schweinegrippe-Welle für möglich

Gérard Krause im Gespräch mit Joachim Scholl |
Das Robert Koch-Institut hält eine zweite Schweinegrippe-Welle in Deutschland für möglich. Zwar werde vermutet, dass die derzeitige Grippewelle noch vor dem Jahreswechsel ihren Höhepunkt erreicht, doch sei eine zweite Welle nicht auszuschließen, sagte der Leiter der Abteilung Infektionsepidemiologie, Gérard Krause.
Joachim Scholl: Ich bin jetzt verbunden mit Gérard Krause, er arbeitet am Berliner Robert-Koch-Institut an der Entwicklung von Prognosemodellen, mit deren Hilfe man genauer Krankheitsverläufe voraussagen kann. Guten Morgen, Herr Krause!

Gérard Krause: Schönen guten Morgen!

Scholl: Wir haben gerade jetzt von dieser Grippedienstleistung von Google gehört – bietet ein solcher Grippedienst oder Grippetrend verlässliche Aussagen?

Krause: Also wir haben das für Deutschland sehr eindringlich geprüft und mit unseren Daten verglichen, und das ist nicht der Fall, insbesondere nicht, was die Vorhersage der künftigen Entwicklung betrifft. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn Google Trends arbeitet ja auf der Basis der Google-Anfragen, und das spiegelt natürlich viel mehr das Wissensbedürfnis der Bevölkerung wider, als dass es unbedingt den Krankheitsaktivitätsprozess widerspiegelt.

Scholl: Was leisten denn überhaupt Prognosemodelle für eine Bekämpfung einer möglichen Pandemie?

Krause: Ja, wir hüten uns eigentlich sogar, den Begriff Prognose in diesem Zusammenhang zu verwenden, weil auch wir nicht in die Zukunft schauen können. Gerade Influenzaviren sind unglaublich veränderlich und immer für Überraschungen bereit. Kein Modell war zum Beispiel in der Lage vorherzusehen, dass wir im Frühjahr diesen Jahres diese mexikanische Grippe haben würden. Wir verwenden dennoch die Modellierung und zwar zum Instrument, um verschiedene Maßnahmen miteinander zu vergleichen, um die Effektivität verschiedener Impfstrategien miteinander zu vergleichen und auf diesem Weg durchaus sehr hilfreiche Schlussfolgerungen für unsere Präventionskonzepte abzuleiten.

Scholl: Auf welche Parameter stützen sich solche Modelle?

Krause: Das ist genau der springende Punkt, da gehen wir nämlich im Gegensatz zu Google Trends natürlich – und können auch und müssen auch – viel mehr in die Tiefe gehen. Wir haben wissenschaftliche Studien vor Ort gemacht, wir haben über 18 Teams rausgeschickt am Anfang der Epidemie, um vor Ort die Eigenschaften des Virus zu untersuchen, die Übertragbarkeit zu untersuchen, die Infektiosität zu untersuchen, die Dauer der Erkrankung zu untersuchen. Und diese Parameter sind es, die man dringend braucht, um die Modellierung zu präzisieren. Und aufgrund dieser Parameter können wir jetzt besser abschätzen, wie sich zum Beispiel eine Impfkampagne in einer bestimmten Altersgruppe auswirkt.

Scholl: Es gibt verschiedene Institutionen und Firmen, die an solchen Modellen von Prognosen arbeiten. Anfang November gab es in Süddeutschland ein internationales Treffen dieser Modellierer, wie sie sich nennen, und man war sich einig, hieß es danach, dass es sehr schwer sei, die aktuelle Pandemie zu modellieren. Was ist denn an der Schweinegrippe anscheinend so besonders?

Krause: Ja, die Schlussfolgerung ist absolut richtig und bestätigt das, was ich eben sagte. Wir haben das auch noch mal eingehend untersucht, wir haben eigene Überprüfungen dessen gemacht, und wir haben dabei festgestellt, dass die Vorhersage über den weiteren Verlauf einer Epidemie eigentlich erst zu einem Zeitpunkt möglich ist, wo der Höhepunkt der Epidemie schon erreicht ist, also im Prinzip als Vorhersage nicht mehr so richtig gut geeignet. Der Hintergrund ist, dass eben Influenzaviren – und das ist nicht nur bei diesem Virus der Fall, sondern grundsätzlich – Influenzaviren sehr unterschiedliche Charakteristika annehmen können, die sind sehr stark veränderlich. Und vieles – muss man auch zugeben – vieles über die Übertragbarkeit und die Entwicklung der Influenzaepidemien ist tatsächlich noch einfach nicht bekannt und wird weiter untersucht. Und insofern man da Unsicherheit bezüglich der einzelnen Parameter hat, ist es auch nicht verwunderlich, dass die Modellierung schwierig ist.

Scholl: Sie, Gérard Krause, entwickeln derzeit am Robert-Koch-Institut ein Modell oder haben es bereits entwickelt – wie sieht das aus?

Krause: Ja, wie gesagt, unsere Modelle – wir haben mehrere Modelle entwickelt – unsere Modelle haben zum Ziel nicht unbedingt vorherzusagen, wie und wann die künftige Epidemie verläuft, das maßen wir uns gar nicht an, sondern unsere Modelle haben zum Ziel, bestimmte Strategien miteinander zu vergleichen und die Wirksamkeit der Strategien miteinander zu vergleichen, zum Beispiel zu untersuchen, was passiert, wenn die Quarantänezeit auf die und die Zeit ausgedehnt wird, was passiert, wenn diese Personengruppen zuerst geimpft werden und dann erst die anderen. Und auf die Art und Weise können wir zwar nicht in absoluten Zahlen sagen, wie viele Opfer es geben wird, aber wir können sagen, welche Strategie besser als die andere ist. Und das fließt in unsere Empfehlung ein.

Scholl: Die Ständige Impfkommission hat ihre im Oktober veröffentlichten Impfempfehlungen schon auf Modelle gegründet, die aus Ihrem Haus, dem Robert-Koch-Institut, stammen. Sind die neuen Modelle noch sicherer in der Prognose?

Krause: Ja, die neuen Modelle sind natürlich ein Stück weit präziser, weil wir gerade im September sehr viele Daten aus dem Ausland verwenden mussten, weil wir selber in Deutschland ja gar keine eigene Durchseuchung hatten, wir hatten im Prinzip nur importierte Fälle. Jetzt können wir auf eigene Daten zurückgreifen, jetzt können wir unsere Daten etwas besser abstimmen und genauer diesbezüglich unsere Modelle durchrechnen.

Scholl: Wenn man sich die bisherige Verlaufskurve der Schweinegrippe anschaut, also Infektionsrate und Ausbreitung – man kann das auf Ihrer Webseite des Robert-Koch-Instituts schön anschauen – und diese Verlaufskurve mit denen der letzten Jahre vergleicht, dann fällt auf, dass sich die diesjährige Grippe offenbar schneller ausbreitet, die Kurve also schneller steil ansteigt. Heißt das nicht nur, dass der Peak oder Höhepunkt schneller erreicht ist und schon im Dezember vielleicht, nicht erst im Februar, wie zum Beispiel letztes Jahr? Und heißt es nicht auch, dass der Höhepunkt dann bald erreicht ist und es sich vielleicht gar nicht mehr lohnt zu impfen?

Krause: Wir gehen tatsächlich davon aus, dass der Höhepunkt der Kurve bei der aktuellen Welle jetzt früher erreicht werden wird als sonst, weil die ganze Kurve auch früher begonnen hat und – wie Sie richtig sagen – auch der Anstieg steiler war. Die zweite Schlussfolgerung, die kann man nicht ziehen, denn wir müssen uns vorstellen, dass wir auf der zweiten Hälfte der Welle, also nach dem Höhepunkt, mindestens noch mal genauso viel Fälle haben wie auf der ersten Welle. Und wir wissen aus der Vergangenheit, dass es mehrwellige Verläufe geben kann. Wir wissen außerdem aus der Vergangenheit, dass diese Wellen geografisch sehr unterschiedlich verlaufen können. Wir haben im Moment eine Welle, die praktisch dominiert ist von einem Geschehen in Bayern, wo sehr, sehr, sehr viele Fälle in Bayern auftreten. Die nördlichen Bundesländer sind bislang kaum betroffen. Und es kann durchaus sein, dass die nördlichen Bundesländer erst sehr viel verzögerter von dem Geschehen erfasst werden und dort dann einen späteren starken Verlauf haben können. Insofern ist die Beobachtung richtig, wir haben eine sehr frühe, sehr steile Welle, die einen Gipfel vermutlich noch vor dem Jahreswechsel haben wird. Die zweite Schlussfolgerung muss aber sein, dass Impfung auch danach noch sinnvoll ist, denn wir wissen nicht – gerade weil diese Welle so früh war und weil diese Welle geografisch so sehr auf Süddeutschland fokussiert war –, ob nicht noch am Anfang des Jahres eine Nachwelle kommen wird beziehungsweise die Welle sich in den ersten Monaten des nächsten Jahres auf die nördlichen Bundesländer ausbreiten wird.

Scholl: Ich möchte noch mal auf Ihre Empfehlungen zurückkommen. Kann man also nach Ihren Modellen schlussfolgern, wie schnell und wie viele Menschen zum Beispiel geimpft werden müssen, unbedingt, um eine Ausbreitung zu verhindern?

Krause: Ja, das ist ein Gegenstand unserer Modellierung. Ich kann schon vorwegnehmen, dass wir das nicht mehr schaffen werden, also wir können mit der Verfügbarkeit der Impfstoffe, die wir jetzt haben, und mit dem Zeitpunkt der Epidemie, die wir jetzt haben, unmöglich die Kurve sozusagen platt machen, um das mal salopp auszudrücken. Wir werden also nicht verhindern können, dass sich das Virus ausbreitet und dass es zum Beispiel im nächsten Winter wiederkommt. Das werden wir nicht mehr verhindern können. Was wir verhindern können, ist, dass besonders die Personen, die dazu neigen, schwere und tödliche Verläufe haben, dass die darunter leiden. Und dazu müssen wir gerade diese Personen vorrangig impfen. Insofern ist die Impfung durchaus sehr, sehr wirksam, sie kann die Krankheitslast, den Hauptschaden dieser Welle deutlich reduzieren, aber wir können die Welle als solche nicht mehr verhindern.

Scholl: Strategien gegen die Schweinegrippe, genaue Prognosen können helfen. Das war Gérard Krause vom Robert-Koch-Institut in Berlin. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Krause: Bitte schön!