Depression im Sport

Keine Schwäche, sondern eine Krankheit

23:17 Minuten
Ein Mann in einem dunklen Zimmer blickt hoffnungsvoll aus dem Fenster.
Eine Depression ist eine Krankheit und kann behandelt werden. Wichtig ist, dass Betroffene und Angehörige sich Hilfe holen. © imago stock&people
Von Alexa Hennings · 07.01.2018
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Etwa 20 Prozent der Menschen erkranken in ihrem Leben an einer Depression. Zugeben mag das kaum einer. Vor allem unter Leistungssportlern sind Depressionen ein Tabuthema. Die Robert-Enke-Stiftung will das ändern und bietet Hilfe an.

Aus aktuellem Anlass präsentieren wir Ihnen das Feature "Der Torwart, der sich das Leben nahm - Über seelische Gesundheit und Sport" wieder, das am 7. Januar 2018 in unserem Programm lief. Mehrere Sportlerinnen und Sportler sind von den Olympischen Spielen 2021 wegen Depressionen zurückgetreten oder haben eine Pause genommen. Nun gab auch die US-amerikanische Turnerin Simone Biles bekannt, sie werde weder am Teamwettkampf noch Einzelmehrkampf teilnehmen.

Der Torwart, der sich das Leben nahm – so ist der Name des Fußballers Robert Enke im kollektiven Bewusstsein verankert. Er ist in Jena aufgewachsen, spielte für Mönchengladbach, wurde ein Star bei Benfica Lissabon und Ersatztorwart beim FC Barcelona. Er landete in der Arbeitslosigkeit und war schon fast vergessen, als er sich über die 2. spanische Liga wieder nach oben kämpfte, Torwart und Mannschaftskapitän von Hannover 96 und Nationaltorwart wurde. Im November 2009 setzte Robert Enke seinem Leben ein Ende. Er litt seit mehreren Jahren unter Depressionen.
Keinem war das bekannt, auch nicht seinen Mannschaftskameraden – wie Oliver Bierhoff einen Tag nach Robert Enkes Tod bekennt: "Keiner, wirklich keiner hat Anlass gehabt zu glauben, dass Robert Enke an dieser Krankheit leidet. Im Gegenteil, wir haben ihn immer als sehr gefestigt und stabil kennengelernt. Umso mehr erschüttert uns das natürlich. So wie ich jetzt fühlen auch die Spieler."
Wie groß muss die Angst gewesen sein, sich nicht einmal der eigenen Mannschaft anzuvertrauen? Leistungssportler gelten als geistig stark und gesund. Doch auch – oder besonders sie – empfinden Leistungsdruck, Versagensängste und leiden unter der ständigen öffentlichen Bewertung – und Abwertung. Daumen hoch, Daumen runter, das geht schnell in dem Metier. Wenn dann noch Schicksalsschläge dazukommen wie der Tod von Robert Enkes zweijähriger Tochter, dann kann der Lebenswille erschöpft sein. Vor allem, wenn man keine Hilfe sucht – aus Angst und aus Scham.
Was ist, so viele Jahre nach dem Tod des Torwarts noch zu spüren von dem Zeichen, das er gesetzt hat? Hat sich etwas geändert im Umgang mit der Krankheit Depression? Sind wir endlich offener geworden?

Über Depression reden

Bremen, Weserstadion. Schon drei Stunden vor Anpfiff strömen die Zuschauer ins Stadion. Gegner ist heute Hannover 96. In der Fanclub-Kneipe geht es schon hoch her. Vor dem VIP-Eingang ist ein kleines Fußballtor aufgestellt. Väter und Söhne stehen Schlange, um den Ball ins Tor zu schießen – an einer mechanischen Torwartfigur vorbei, die den Ball abzuwehren versucht. Ob es Robert Enke wohl so ergangen ist wie diesem Pappkameraden? Irgendwann nur noch zu funktionieren, mechanisch, wie ein Uhrwerk?
20 Meter weiter steht ein Kleinbus mit der Aufschrift "Robert-Enke-Stiftung on Tour". Unter einem weißen Partyzelt stellen zwei junge Frauen eine Tafel mit einem Quiz auf und einen Stehtisch. Auf dem drapieren sie einige Flyer und das Buch "Robert Enke - ein allzu kurzes Leben" von Ronald Reng. Auf dem Buchumschlag ein Foto des Torwarts, lächelnd. Felicitas Löffelmann, Mitte 20, Sportstudentin, steht zweimal im Monat mit diesem Stand vor Fußballstadien. Ehrenamtlich.
"Wir leisten mit unserem Informationsstand hier Aufklärungsarbeit zur Krankheit Depression. Und dort wollen wir als größter Schwerpunkt das Thema enttabuisieren. Sprich, dass man sich offen darüber unterhalten kann. Dass Betroffene keine Scheu haben müssen, das beim Arbeitgeber zu sagen oder im Familien- und Bekanntenkreis. Dass man dort eine gewisse Offenheit hat, über diese Krankheit zu sprechen. Im Endeffekt ist es eine Krankheit wie jede andere auch –nur, dass sie eben nach außen nicht sichtbar ist", sagt Löffelmann.

Die Robert-Enke-Stiftung leistet Aufklärungsarbeit

Ein Jahr nach dem Tod des Torwarts wurde die Robert-Enke-Stiftung gegründet - ein Projekt des Deutschen Fußballbundes, des Ligaverbands und des Clubs Hannover 96. Vorsitzende der Stiftung ist Teresa Enke. Seit 2011 ist die Stiftung mit dem Bus auf Tour. Jährlich sind es 80 Einsätze, die die Ehrenamtler bestreiten: vor Fußball- und Eishockey-Stadien, Handball- und Basketballhallen. Auch Kommunen, Institutionen, Universitäten oder Schulen können den Info-Stand kostenlos buchen. Felicitas Löffelmann ist seit zwei Jahren als ehrenamtliche Helferin für die Robert-Enke-Stiftung unterwegs.
"Man hat durch Robert Enke immer einen gewissen Aufhänger. Weil die Leute ihn kennen, vor allem vor dem Fußballstadion", sagt Löffelmann, "Die sind dann auch sehr betroffen, es kommen auch viele, die sagen, sie haben Robert Enke mal persönlich getroffen, häufig auch Ordner von den Fußballstadien. Da kriegt man oft kleine Geschichten erzählt, das ist immer schön. Es ist auch eine Art, an ihn zu erinnern, aber gleichzeitig kommt man auch über die Krankheit ins Gespräch. Das freut uns natürlich."
Zwei junge Männer, am Schal als Hannover-Fans erkenntlich, kommen heran. Greifen zu einem Flyer der Enke-Stiftung.
"Was uns daran interessiert? Dass es einen Menschen wie Robert Enke einfach so - also, wo es einen getroffen hat und es einem klar wird, dass das viele Menschen sind, wo man es auch gar nicht denkt, sag ich mal. Wie viele Menschen, das im Kopf haben, ohne dass man das sieht!", sagen die Männer.
"So ´ne Krankheit ist einfach Scheiße. Ich bin froh, dass es solche Umfragen gibt, was die Leute überhaupt über Depression denken. Andere Leute denken: Okay, der ist kaputt in der Birne und der wird abgestempelt. Ich finde halt, dass gerade die Leute unterstützt werden müssen. Deswegen bin ich voll für so was. Ich finde es cool, dass es die Stiftung gibt, aber ich find es auch schade, dass erst so spät was gemacht wird. Dass erst was passieren muss, bevor solchen Leuten geholfen wird."

Ein Quiz über Depression soll die Menschen informieren

Die beiden Hannover-Fans wenden sich der Tafel mit dem Quiz zu. Dort stehen schon andere Besucher, die versucht haben, die Fragen zum Thema Depression zu beantworten, indem sie einen Magneten auf jene Zahl schieben, die sie für die richtige Lösung halten. Malin Layer, die zweite ehrenamtliche Helferin, ist gerade beim Auswerten.
"Okay. Teilweise gar nicht so weit entfernt von der richtigen Lösung. Hier sind es 4,7 Millionen Menschen im Jahr, die von Depression betroffen sind, d.h. aktuell in Behandlung", erklärt Layer, "Dann: 20 Prozent leiden einmal in ihrem Leben an Depression. 15 Prozent der schwer depressiv Erkrankten begehen Suizid. So war es auch bei Robert Enke der Fall."
Immer dichter wird der Menschenstrom Richtung Stadion. Ein Mann, Werder-Bremen-Schal um den Hals, fragt nach einem Flyer. Der Mann, Mitte 50, hat eine große Handpuppe auf dem Arm, der er ein Werder-Shirt übergezogen hat. Sein Maskottchen für das Spiel.
Er erzählt, dass er mit dieser Puppe, bei der man den Mund bewegen kann, in Altenheime und auf Kinderstationen im Krankenhaus geht. Andere Leute aufmuntern, ehrenamtlich. Er hat selbst erfahren, wie wichtig das ist, ein bisschen Freude und Lachen ins Leben zu bringen, denn er hat 20 Jahre lang unter Depressionen gelitten. Er schaut auf das Buch mit dem Porträt Robert Enkes. Tränen in den Augen.
Dann sagt der Werder-Bremen-Fan: "Der hat sich umgebracht am Geburtstag meiner Mutti, am 10. November 2009. Das werde ich nie vergessen. Und er hatte die stärkste Frau, die es in meinen Augen gibt. Die in Spanien mit ihm gelitten hat, in Griechenland, in Deutschland. Und es nie öffentlich gemacht hat, was traurig und schade ist. Weil: Sie werden nur gesund, wenn Sie es öffentlich machen. Sagen, was Sache ist! Und so habe ich es geschafft. Ich bin heute bei der Volksbank in Neumünster 40 Jahre beschäftigt. Und ich bin Ansprechpartner für Menschen, die ein Problem haben - und die fragen mich."

Depression enttabuisieren

Seit Enkes Suizid hat sich im Umgang mit dem Thema Depression viel geändert, findet der Mann aus Neumünster. Es wird, so erlebt er es und praktiziert es selbst, offener darüber gesprochen:
"Die Menschen lernen dazu. Wir haben bei uns in der Bank ein Gesundheitsmanagement. Und wissen Sie, was das bedeutet? Dass die Menschen sagen, was Sache ist, wenn sie merken, da passt was nicht oder ich kann nicht mehr. Sagen! Outen! Wer da nicht den Mund aufmacht und das verheimlicht, der macht was falsch. Sie müssen was sagen, ob es die Partnerin ist, der Arbeitgeber, Freunde.
Weil das Problem ist: Sie kapseln sich immer mehr ab. Das ist wie so `ne Schraube, Sie drehen sich in die Erde. Ich persönlich habe das so erlebt, ich habe meinen Stecker rausgezogen, ich habe keine Musik mehr gehört, nicht mehr gelesen. Ich hab gar nichts mehr gemacht. Ich habe mir noch was zu essen geholt, damit ich nicht verhungere und was zu trinken, damit ich nicht verdurste. Und habe an die Tapete geguckt, ich hab `ne Erfurter Tapete. Monatelang."
Wenn es mal etwas besser wurde, konnte der Bankangestellte zur Arbeit gehen. Dann wieder die nächsten Angstattacken: beim Einkaufen, am Steuer des Autos, im Bus. Rückzug in die Wohnung. Der Werder-Fan drückt seine Handpuppe fester an sich und schaut lange auf das Porträt Robert Enkes auf dem Buchcover. Natürlich hat er die Biografie längst gelesen.
"Ich hab schon viel geweint über ihn hier. Vor allem, wenn man selbst betroffen ist. Wenn man selbst betroffen war, dann weiß man, wovon man redet. Leute, die das nie hatten, können das gar nicht verstehen, sollen sie auch gar nicht, ich wünsch das auch keinem. Das ist für mich ein ganz bewegender Moment, dass ich hier stehe."

Viele haben Angst, bloß gestellt zu werden

Wenn er etwas gelernt habe aus dem Schicksal Robert Enkes, dann dieses: Es kann jedem passieren, und wenn es passiert, dann behalte es nicht für dich. Hol dir Hilfe.
"Er war eine öffentliche Person. Er wollte nicht, dass es erkannt wird nach außen, weil er Angst hatte, wenn die es wissen, dann bin ich nachher nicht mehr Torwart, dann fliege ich raus. Solche Gedanken kommen dann", sagt er.
Felicitas Löffelmann schaut dem Werder-Fan und seiner Puppe noch lange nach. Hans im Glück hat er die Puppe genannt. Ob er heute die Fans damit aufmuntern wird, wenn es für ihre Mannschaft nicht so gut läuft? Noch weiß keiner, dass an diesem kalten, regnerischen Tag die Bremer die sonst überlegenen und in der Tabelle weit vor ihnen platzierten Hannoveraner besiegen werden.
"Man lernt viele Leute von einer ganz anderen Seite kennen. Das fasziniert tatsächlich jedes Mal wieder, wie offen manche Leute sind. Wo ich sage, das sind teilweise Sachen, die würde ich nicht jemandem Wildfremden erzählen", sagt Löffelmann, "Da kann man sich dann die Frage stellen, warum machen die Leute das? Aber wir sind natürlich für alles offen und gern bereit, uns über alles zu unterhalten. Wir sind nicht beratend dabei tätig, sondern wir sind eher als aufmerksamer Zuhörer da. Weil das vielen schwerfällt, und bei uns ist definitiv das Verständnis da für die Leute."
Nicht nur mit dem Bus vor Stadien, sondern auch bei Facebook und Twitter informiert die Stiftung über die Krankheit Depression. Neuerdings gibt es die sogenannte Enke-App mit Fakten, einem Selbsttest, Informationen zum Thema Depression und Sport. Das wichtigste aber ist ein SOS-Bereich, in dem man Gruppen einrichten kann, die man im Notfall sofort informiert. Es gibt auch die Möglichkeit, dass der Notruf an Rettungskräfte abgesetzt wird, die dann den Standort des Gefährdeten lokalisieren können. Das Motto der Helfer: "Robert Enke konnten wir nicht retten - dich schon."

Eine Hotline für Menschen, die Hilfe brauchen

Darüber hinaus hat die Stiftung ein Netz von Beratungsstellen aufgebaut, dessen Fäden in Aachen zusammenlaufen.
"Mit der Uniklinik Aachen wurde eine Beratungshotline eingerichtet, dort sitzen Fachkräfte vor Ort. Es können Fragen jeglicher Art gestellt werden bzw. wird man vielleicht noch woanders hin verwiesen. Aber dort ist auf alle Fälle ein guter erster Anlaufpunkt, wo man Hilfe bekommen kann", erklärt Löffelmann.
Die Telefonnummer der Beratungshotline lautet 0241-8036777. An jedem Werktag ist diese Nummer von neun bis zwölf und von dreizehn bis 16 Uhr erreichbar. Wer sie eingibt, landet bei Dr. Chechko und ihren Kolleginnen und Kollegen. Natalya Chechko ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und betreut als Oberarzt eine Station im Universitätsklinikum Aachen. Die Beratungshotline ist für alle Betroffenen da, nicht nur für Sportler. Daneben wurden spezielle therapeutische Angebote für Leistungssportler geschaffen. So hatten es die Gründer der Robert-Enke-Stiftung beschlossen.
Als die Beratungshotline eingerichtet wurde, leitete sie Dr. Karsten Henkel. Er sagt: "Das war so eine Initialzündung. Und daraufhin wurden Zentren für seelische Gesundheit im Sport gegründet. Zunächst universitäre Zentren, die sich dann flächendeckend vermehrt haben. Inzwischen sind wir auch über die Ländergrenzen hinaus in Österreich und der Schweiz vertreten. Aber inzwischen gibt es auch so einige Zentren, die jenseits von Universitäten auch sportpsychiatrische Sprechstunden anbieten."

Viele Leistungssportler erkennen nicht, dass sie eine Depression haben

Leistungssportler sind von Depressionen zunächst einmal nicht mehr betroffen als die allgemeine Bevölkerung – rund 20 Prozent erkranken daran. Doch Sportler sind körperliche Symptome wie Erschöpfung und Schmerzen gewohnt. Sie werden ausschließlich als Folge des harten Trainings interpretiert. Wenn die Symptome jedoch chronisch werden, erkennen Sportler oft nicht, dass dies auch Anzeichen einer Depression sein können. Im eigenen Club finden sie manchmal nicht die richtige Hilfe.
"Die Sportpsychologen, die von den Vereinen und Verbänden bezahlt werden, stehen natürlich in dem Konflikt, dass sie zunächst erst mal für die Leistungsverbesserung und Leistungssteigerung der Athleten zuständig sind. Und kleinere Schwankungen und Ängste werden sicher von denen aufgefangen und zur Leistungsoptimierung eingesetzt", sagt Henkel.
"Wichtig ist es bei ihnen, zu erkennen, wann diese Schwelle zur Störung, zur behandlungsbedürftigen Erkrankung überschritten ist. Und dafür gab es bisher nicht so flächendeckend Ansprechpartner bzw. eine Hürde für Sportler, sich in eine allgemein psychiatrische Praxis oder Klinik zu begeben. Und Ziel war eine Entstigmatisierung von solchen Krankheiten. Auch im Sport darf man über sie reden und muss über sie reden, um die Sportler, die davon betroffen sind, adäquat zu versorgen."

Keine Schwäche, sondern eine Krankheit

Vielen Sportlern, so stellte Karsten Henkel fest, fehlt in ihrer Jugend eine wichtige Grundlage für die seelische Gesundheit im Leben: die Nestwärme. Schon sehr früh entbehren sie für ihre sportliche Karriere das Zuhause, wechseln Schulen, Clubs und Länder. Leistungsdruck, ständige und öffentliche Bewertung, sportliche Misserfolge, Verletzungen oder ein Schicksalsschlag in der Familie – all das kann dann irgendwann psychisch krank machen.
"Natürlich wird so etwas möglicherweise auch als Schwäche interpretiert. Es ist ja gerade keine Schwäche, sondern eine Krankheit. Die kann jeden von uns erwischen. Und es ist ganz wichtig, dass man sich im richtigen Moment Hilfe holt und nicht glaubt, man sei selber schuld an dieser Erkrankung."
Lange konnte sich Markus Stein Reitturniere nur auf seinem Laptop anschauen. Manchmal reichte selbst dazu die Kraft nicht mehr. Seinen richtigen Namen möchte der Springreiter nicht nennen. Er befürchtet, als psychisch krank abgestempelt zu werden, hat aber dennoch den Mut, öffentlich darüber zu sprechen.
Sein Leidensweg begann 2011. Er befand sich in einem Formtief und hatte das Gefühl, nicht an die Erfolge, die er im Jugendbereich hatte, anknüpfen zu können. Zunächst war es nur ein Erschöpfungszustand, dann wurden die Symptome schlimmer.
Steint sagt: "Zum Sommer hin war es besser, zum Herbst wurde es schlimmer, sodass ich dann über den Winter drei, vier Tage am Stück nur im Bett gelegen hatte, gar keinen geregelten Tagesablauf hatte. An den Tagen, wo es wieder gut ging, konnte ich wieder reiten und arbeiten. Die Familie hat es natürlich sehr hautnah mitbekommen, auch meine damalige Lebensgefährtin und mein bester Freund. Die anderen eher nicht. Die haben sich nur immer gewundert: Wo war der?
Es standen Turniere an, ich war angemeldet und ich bin dann nicht erschienen, was ungewöhnlich ist. Dann bekam ich den einen oder anderen Anruf. Dann hatte ich immer eine Ausrede: Fahrzeug in der Werkstatt, Pferd verletzt, selber krank. Und irgendwann gingen mir natürlich auch die Ausreden aus. Und war dann so weit, dass ich zwei Jahre keine Turniere mehr geritten bin, zu Hause nur geritten bin, wenn es mal passte und gar nicht mehr das ausschöpfen konnte, was ich normalerweise kann."

Erst fünf Jahre nach Ausbruch der Krankheit holte er sich Hilfe

Der 33-Jährige, der nach dem Abitur eine Ausbildung zum Pferdewirt absolvierte, hatte einen eigenen Betrieb, in dem er Pferde ausbildete. Den musste er wegen seiner Erkrankung schließen. Sport und Beruf – bei ihm eine Einheit – beides brach weg. Tagesklinik, Hausarzt und Neurologe konnten nicht helfen. Seine Freundin musste ihm lange zureden, ehe er die sportpsychatrische Sprechstunde von Karsten Henkel an der Uniklinik in Aachen aufsuchte. Das war im Frühjahr 2016, fünf Jahre nach dem Ausbruch der Krankheit.
"Es hat aber dann doch lange gedauert. Ich habe mich auch räumlich verändert. Ich bin dieser Zeit umgezogen, der eigene Betrieb wurde verkauft. Und ich bin dann zurück in den Betrieb, in dem ich meine Ausbildung gemacht hatte. Weil ich mich zurückerinnert hatte, dass das eine sehr schöne Zeit in meinem Leben war. Da dachte ich: Geh dahin wieder zurück!", sagt Stein.
"Und hab dann dort auch etwas Turnier geritten im Sommer und angefangen zu arbeiten, aber wirklich nur 50 Prozent. Der größte Durchbruch kam dann dieses Jahr Ende Januar, das hatte natürlich auch was mit den Therapiestunden hier zu tun. Da war eine Stunde, wo wir uns ein Diagramm aufgemalt hatten, was an erster Stelle steht, Arbeit, Sport und Privates. Und da hat es bei mir Klick gemacht: Ich muss jetzt wieder zurück. Und hab ab dem Folgetag mit dem Programm angefangen, was ich momentan durchführe."
Ein Programm, in dem andere vielleicht eine Überforderung sehen würden. Für den Springreiter ist es die Rettung. Auch die Verantwortung für die Tiere hat ihn immer wieder aufstehen lassen.
"Das ist momentan so, dass ich sieben Tage die Woche wirklich zehn Stunden in dem Betrieb bin und acht bis neun Pferde reite. Und gesagt habe: Ich will wieder Sportreiten. Am Anfang war ich nicht sehr erfolgreich, ich musste erst mal wieder da reinkommen und die Kraft bekommen. Und habe jetzt zurückblickend die erfolgreichste Saison meines Lebens geritten. 35 Platzierungen, acht Siege und auch zwei höhere Siege, die ich vorher in meinem Leben nicht hatte. Und da bin ich wirklich so ein bisschen stolz auf mich selber und sage aber: Das habe ich nur geschafft durch das strenge Programm, das ich mir da zugemutet habe. Ohne das wäre, ich glaube, ich nicht wieder zurückgekommen."

Körperliche Aktivitäten helfen gegen Depressionen

Karsten Henkel, der den Springreiter in der speziellen Sprechstunde für Sportler am Uniklinikum in Aachen betreut, weiß: Ein probates Mittel gegen Depressionen ist es, körperlich aktiv zu sein. Das gilt für Leistungssportler und Sportverweigerer gleichermaßen.
"Wir nutzen ja auch Sport als Therapeutikum bei psychischen Erkrankungen. Man weiß zum Beispiel, dass dadurch bestimmte Hirnareale, die bei einer Depression verkleinert sind, wieder größer werden. Dass sich Zellen wieder teilen können im Gehirn und wie sie ebenso wie bei Anti-Depressiva-Medikation auch durch Sport selber eine Verbesserung strukturell und funktionell im Gehirn selber verursachen können", so Henkel.
Es kann auch Teil des Gesundwerdens sein, in der Öffentlichkeit über die Krankheit Depression zu sprechen. Einige bekannte Sportler, Trainer und auch Künstler hatten dazu in den Jahren nach dem Tod von Robert Enke den Mut. Markus Stein konnte sich dazu jedoch nicht entschließen.
"Weil die Allgemeinheit ja doch noch nicht so aufgeklärt ist über das Thema und das auch nicht verstehen könnte, wenn ich jetzt sage: He, ich hatte mit sehr starken Depressionen zu tun und muss jetzt auch immer höllisch aufpassen, da nicht wieder reinzugeraten. Also, man würde dann doch etwas belächelt oder für verrückt gehalten. Wenn man jetzt sagt: Der hatte ein Magengeschwür, der konnte nicht, dann okay", meint Stein.

"Aber wenn man sagt, ich war depressiv, dann sagen sie: Der hat einen Vogel. Oder: Den können wir nicht ernst nehmen. Besonders das Umfeld, die würden das nicht so einfach aufnehmen und akzeptieren. Die würden einen da doch eher belächeln oder Scherze drüber machen oder sonst was."
Den Sportreiter schreckt auch das Beispiel eines Bekannten ab. Kaum älter als er, früher sehr sportlich, ist er jetzt depressiv und arbeitsunfähig. Die Umwelt reagiert nicht nur mit Unverständnis, sondern mit Hohn:
"Ich habe Kontakt mit seinen früheren Kollegen. Und da geht das immer nur: der Faulpelz, der Schmarotzer, hat keinen Bock und so. Solche Sprüche muss man sich dann immer anhören. Da denke ich immer: Mann, was seid ihr in der Beziehung einfach unaufgeklärt, ihr habt einfach keine Ahnung. Er kann nicht anders. Aber wenn ich ihn verteidige, bekomme ich dann auch noch blöde Sprüche zu hören. Es ist halt noch schwierig, das Thema."
40.000 Menschen waren bei der Trauerfeier für Robert Enke in der Arena in Hannover, Tausende kamen in die Kirche zum Trauergottesdienst. Und auch wenn sich vieles getan hat: Die Worte, die DFB-Präsident Theo Zwanziger und Bischöfin Margot Käßmann damals sagten, gelten heute immer noch:
"Fußball darf nicht alles sein. Denkt auch an das, was im Menschen ist an Zweifel und an Schwäche. Wie traurig ist es, dass jemand nicht wagen kann, über Depression und Krankheit zu sprechen, weil unsere Gesellschaft das als Schwäche sieht. Dafür darf es keine Pfiffe geben in unserem Leben."
(mw)

Hilfsangebote für Menschen mit Depressionen und ihre Angehörigen:

Wenn auch Sie oder ein Angehöriger sich in einer scheinbar ausweglosen Situation befindet, zögern Sie nicht Hilfe anzunehmen bzw. anzubieten!

Hilfe bietet ihnen unter anderem die TelefonSeelsorge in Deutschland:
0800 111 0 111 (gebührenfrei)
0800 111 0 222 (gebührenfrei)

Die Robert-Enke-Stiftung hat in Zusammenarbeit mit der Klinik für Psychatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Uniklinik RWTH Aachen eine Beratungshotline ins Leben gerufen. Diese Hotline bietet sowohl für Leistungssportler, als auch für Personen, die nicht aus dem Sport kommen, Informationen über Depressionen und deren Berhandlungsmöglichkeiten an und wird wissenschaftlich begleitet.

Beratungs-Hotline der Robert-Enke-Stiftung:
Tel. 0241–80 36 777 (Montag bis Freitag von 09 bis 12 Uhr und von 13 bis 16 Uhr)

Die Robert-Enke-Stiftung hat darüber hinaus eine App entwickelt, die an Depression erkrankten Menschen, unter anderem Notfall-Hilfe per SOS-Notruf anbietet.

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