Robert Barry über "Die Musik der Zukunft"

Wie klingt die Utopie?

Robert Barry im Gespräch mit Mascha Drost · 24.05.2018
Ein Revival folgt aufs nächste: Hat die Musik ihre utopische Kraft verloren? Der britische Musikjournalist Robert Barry glaubt "noch immer an das Neue in der Musik". Das Problem ist, das Neue auch zu etablieren. Darüber hat er ein Buch geschrieben.
Mascha Drost: Sie beginnen das Buch ja mit einer sehr hübschen Episode, wie Sie einen Vortrag zur Musik halten, frei und ein wenig verwirrend für die Zuhörer. Wissen Sie denn jetzt, wo Sie das Buch geschrieben haben, mehr über die Musik der Zukunft?
Robert Barry: In meinem Buch geht es ja nicht um Vorhersagen. Mein Buch handelt von der Geschichte dieser Idee, von den Versuchen verschiedener Komponisten und Schriftsteller sich vorzustellen, wie die Musik der Zukunft aussehen könnte. Ich gehe zurück zu den Utopisten des frühen 19. Jahrhunderts, zu Komponisten wie Hector Berlioz und Richard Wagner über die italienischen Futuristen des frühen 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.
Ich habe es eigentlich ausdrücklich vermieden, darüber zu schreiben, wie die Musik der Zukunft klingen wird. Aber als ich das erste Mal danach gefragt wurde, auf diesem Festival in Zagreb, dachte ich, dass sie vielleicht an solchen Orten stattfindet, auf Festivals, auf denen man elektronische und akustische Musik hört, improvisierte und komponierte Musik, wo unterschiedlichste Stile und Genres aufeinandertreffen. Und dazwischen unterhalten sich Menschen aus den unterschiedlichsten Richtungen, aus der Visuellen Kunst und der Klangkunst. Dabei entsteht eine temporäre Gemeinschaft dieser Künstler, und das fand ich sehr aufregend, ich wurde fast ein bisschen süchtig und bin zu immer mehr solcher Festivals gefahren.

Musik in den Diskurswolken

Mascha Drost: Sie schreiben ja auch, das Wichtigste bei Komponisten wie Wagner, auf den der Begriff der Musik der Zukunft ja auch zurückgeht, das Wichtige sei eigentlich nicht die Musik, sondern die Geschichten drum herum. Können Sie das noch ein bisschen erläutern?
Robert Barry: Das klingt vielleicht ein bisschen dick aufgetragen. Ich liebe die Musik sowohl von Wagner als auch von Berlioz. Aber was ich damit sagen will: Wir haben keinen direkten Zugang zu ihrer Musik. Wir nehmen sie nur in diesen Diskurswolken wahr, die unser Hören ihrer Musik beeinflussen. Wagner, Berlioz und besonders Liszt wurden schon während ihrer Lebenszeit stark verklärt. Über Franz Liszt wurden zu seinen Lebzeiten mehrere Romane geschrieben. Und er selbst hat stark an der Literarisierung seiner eigenen Biografie mitgearbeitet, gegen Ende seines Lebens. Und auch Berlioz und Wagner waren Inspiration für die Literatur, zu Lebzeiten und danach. Und damit hatten sie einen viel größeren Einfluss auf die nachfolgende Musik als mit den Noten, die sie tatsächlich geschrieben haben.
Und es gab da diese Idee einer Musik der Zukunft, einer Musik der Geräusche, die ja gar nicht existierte, aber die spätere Generationen von Komponisten inspiriert hat. Sie wollten das erschaffen, wovor man im 19. Jahrhundert solche Angst hatte, vor einer Musik, die alle alten Regeln über den Haufen wirft, die nur noch Geräusch ist und Raserei. Diese Ideen waren für die Schreiber des 19. Jahrhunderts eine Horrorvorstellung, aber sie wurden natürlich Strategien für Komponisten des 20. Jahrhunderts.

Musik richtet sich immer an das zukünftige Publikum

Mascha Drost: Kann man denn überhaupt Musik für die Zukunft schreiben? Es gibt ja nichts auf der Welt, das derart ungewiss ist.
Robert Barry: Ich glaube, in gewisser Weise ist jede Musik für die Zukunft geschrieben. Sobald man sie notiert, erwartet man ja, dass jemand außerhalb der absoluten Gegenwart sie lesen wird. Abgesehen von improvisierter Musik, die sich völlig an den Augenblick richtet. Musik zu schreiben, die sich ausdrücklich nicht an die Gegenwart richtet, sondern an ein zukünftiges Publikum, Dekaden oder Jahrhunderte später ist gleichzeitig arrogant und lächerlich: Oh, meine Ideen sind zu anspruchsvoll, um von einem heutigen Publikum verstanden zu werden. Das ist ja eine ziemlich absurde Haltung.
Aber gleichzeitig argumentiere ich in meinem Buch auch so, dass wir manchmal diese absurden Posen, diese lächerlichen Gesten brauchen, weil sich sonst nichts verändert. Wir jagen unserem eigenen Schwanz hinterher wie der Ouroboros, wir replizieren das Ewiggleiche. Die Empfehlungsalgorythmen von Spotify oder Amazon verstärken das nur.
Mascha Drost: Wie ist das heute, wird die Musik heutzutage von den musikalischen Utopien, also von einer Zukunftsvision bestimmt, oder tatsächlich von den Visionen der Vergangenheit beeinflusst?
Robert Barry: Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Wir können alle möglichen Arten von aktueller Musik finden, die durchsetzt sind von Ideen einer Zukunft. Aber wenn wir etwas genauer hinhören, finden wir darin eine Art von Distanz, die durch Ironie oder Nostalgie gewahrt wird. Wir hatten jede Menge Revivals in den letzten Jahren. Die "Retromanie", von der der Musikkritiker Simon Reynolds spricht. Vergangene Zukunftskonzepte tauchen wieder auf, Science-Fiction-Musik aus den 60er-Jahren, Gruppen wie der BBC Radiophonic Workshop, oder es gab ein großes New-Age-Musik-Revival.
Und auf der anderen Seite gibt es das große Interesse für Themen wie Afrofuturismus und Leute wie Sun Ra, oder Janelle Monae, Kendrick Lamar, Shabazz Palaces, der Soundtrack zum Film "Black Panther". Oder ich denke an die Musikerin Moor Mother aus Philadelphia, die zusammen mit ihrer Partnerin Rasheeda Philips ein Manifest geschrieben hat unter dem Titel "Black Quantum Futurism", das Ideen von der Organisation politischer Kommunen zusammenbringt mit aktueller Physik und Ideen aus Kodwo Eshuns großartigem Buch "More Brillant Than The Sun", und das Ganze ergibt ein schwindelerregendes, aufregendes, wirklich bewegendes Gemisch aus Ideen.

Glaube an das Neue in der Musik

Mascha Drost: Sie würden also nicht den Kritikern zustimmen, die heute behaupten, Musik habe ihre Zukunftsperspektive verloren?
Robert Barry: Wie ich sagte, oft herrscht eine zynische oder nostalgische Distanz vor. Und es gibt die Schriften aus den späten Siebzigern, vom italienischen Theoretiker Franco "Bifo" Berardi. Er beschreibt diesen Moment, in dem die Sex Pistols das erste Mal "No Future" geschrien haben. Und gleichzeitig sind die letzten großen Gewerkschaften zugrunde gegangen, die neoliberale Politik hat das Ruder übernommen, in Großbritannien und den USA. Damals wurde die letzte Hoffnung auf die Möglichkeit einer anderen Welt zunichte gemacht. Und dann gibt es Werke wie Luigi Nonos ‚"La lontananza nostalgica utopica futura" von 1989, die Tim Rutherford-Johnson in seinem großartigen Buch "Music after the fall" beschreibt als "verlorenes Wandern zwischen verschiedenen Geistern der Zukunft", und das wiederum zu einer Zeit, in der die liberale Wirtschaftspolitik einen weltweiten Triumph feiert. Die Zukunft wird da langsam abgeschafft, man wird ihrer immer weniger habhaft.
Ich habe eine gewisse Sympathie für diese Vorstellung, aber ich bin weniger pessimistisch. Ich glaube noch immer an das Neue in der Musik, und ich kann es immer noch hören – ich höre es ständig, ich höre dauernd neue Klänge, als Musikjournalist und als jemand, der zu vielen Musikfestivals geht. Ich höre Musik, die aufregend und neu klingt und in der Ideen stecken, die ich noch nie zuvor gehört habe. Das Problem ist vielleicht, einen kollektiven Glauben daran zu etablieren, eine Vormachtstellung der Idee des Neuen.

Die Dimension der Zeit

Mascha Drost: Es gibt heutzutage vielleicht nichts, das unsere Gesellschaft, unser Leben, unsere Kunst derartig beeinflusst wie das Internet. Sie sprechen vom Internet nicht nur als Cyberspace, sondern auch als "cybertime". Was bedeutet das, welche Auswirkung hat das auf die Musik?
Robert Barry: Die Vorstellung eines Cyberspace ist seit William Gibsons Romanen der frühen 80er-Jahre wie "Neuromancer" sehr verbreitet. Zu einer Zeit, als das Internet noch Verteidigungsinstitutionen und Universitäten vorbehalten war, hat Gibson schon eine Vorstellung entworfen vom Internet als endlose Aneinanderreihung von Neonlichtern und Elektroden. Und diese Vorstellung des Internet als ein Raum, in dem wir uns bewegen und den wir bewohnen, hat sich sehr stark durchgesetzt. Wir haben Internetadressen, die Metapher des Raums hat sich durchgesetzt.
Aber gleichzeitig sollten wir uns auch die ganz besondere Dimension der Zeit klar machen, die das Internet mit sich bringt. Ich beziehe mich da auf den Theoretiker Robert Hassan. Er spricht von einer "Netzwerk-Zeit", einer verbundenen Ungleichzeitigkeit. Es wird ja immer behauptet, wir würden im Internet in Echtzeit kommunizieren. Das stimmt überhaupt nicht. Es gibt immer Lücken und Verzögerungen, ganz anders als zum Beispiel das Radio, mit dem wir wirklich in Echtzeit verbunden sind. Und das Internet zerstört das. Alles, was wir online machen, geschieht mit einer gewissen Verspätung. Und da steckt immer Geld dahinter. Schnelles Internet kostet Geld.
Und eine Sache, über die ich mich in meinem Buch beklage ist die: Es gibt nur wenige Musiker und Komponisten, die sich mit dieser verbundenen Ungleichzeitigkeit beschäftigen. Es gibt ein paar wenige, die sich mehr oder weniger bewusst mit dem Thema beschäftigen, und dabei mehr oder weniger verzweifeln. Der Brite Mark Fell ist einer dieser wenigen Musiker, der sehr interessante Clubmusik macht. Sie besteht aus verschiedenen Schichten, die sich gewissermaßen aneinander reiben. Oder im Feld der Konzertmusik könnte ich den amerikanischen Komponisten Elliott Carter nennen. Er arbeitet auch mit verschiedenen Schichten, mit unterschiedlichen Instrumenten, die auf unterschiedlichen zeitlichen Ebenen zu spielen scheinen. Ich glaube, in einigen seiner Stücke kann man dieses Phänomen von Verbundenheit und Ungleichzeitigkeit hören, für das ich mich interessiere.

Robert Barry: "Die Musik der Zukunft"
Verlag Bittermann Berlin, 240 Seiten, 20 Euro

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