Roadmovie durch die Gewaltgeschichte des Balkans

04.05.2010
In manchen Ländern ist das Roadmovie, auch das literarische, ein Synonym für Freiheit. Auf dem Balkan, jedenfalls im Roman "Freelander" des wohl bekanntesten kroatischen Schriftstellers, Miljenko Jergović, führt es in den Tod.
Zeitlebens kam der 66-jährige, pensionierte Gymnasiallehrer Karlo Adum kaum aus Novi Zagreb, dem Hochhausviertel der Zuwanderer, heraus, da erreicht ihn das Telegramm eines Rechtsanwalts aus Sarajevo und verheißt das Erbe eines Onkels. Adum bricht im alten Volvo, erworben vor Jahrzehnten in jugendlichem Optimismus, auf in seine bosnisch-herzegowinische Geburtsstadt. Als Kind war er damals mit seiner Mutter aus Sarajevo geflohen, weil er einen ihn quälenden Mitschüler so unglücklich gestoßen hatte, dass dieser starb.

Jergović, 1966 in Sarajevo geboren und seit 1993 in Zagreb lebend, lässt Adum in "Freelander" in die Vergangenheit reisen. Den verstorbenen Onkel kannte er nicht, wusste nur, dass dieser seinem Vater im Streit einen Daumen abgehackt hatte. In ohnmächtiger Wut kratzte der Vater sein kurzes Leben lang mit den nutzlosen vier Fingern den Mörtel von der Wand, während Adums Mutter mit deutschen Offizieren, faschistischen Ustascha-Leuten und dann mit Kommunisten fremdging. Den hinderlichen Sohn schickte sie mit geistig Behinderten, die von den Aufsichtspersonen bestialisch gezüchtigt wurden, an die See.

Adum erinnert sich an die Kindheit, während er an der Abfahrt vorbeifährt, die zum einstigen deutschen KZ Jasenovac führt, oder in der Autobahngaststätte polnische Touristen beobachtet. Die von ihnen frohgemut verspeisten, fünfzehn Mal aufgewärmten kroatischen Nationalgerichte schmecken, so Adum, als stamme das Fleisch "aus einem der Massengräber in der näheren Umgebung". Diese gibt es reichlich, weil Südslawen "sich nichts schuldig (...) bleiben" und "die heute offenen Rechnungen in fünfzig Jahren begleichen werden, so wie die von vor fünfzig Jahren gestern beglichen wurden."

In den Augen dieses alten Mannes, der sich nur mit einer Pistole in der Tasche nach Sarajevo traut, ist die jugoslawische Geschichte eine von Chauvinismen, die sich in den späten Achtzigerjahren in mörderische Nationalismen verwandelten. 1975 konnte Adum wegen seines türkisch klingenden Namens nicht Professor werden. Auch er beschimpfte eine Sekretärin als "Serbenschlampe", und wenn das Blut aus seinem Steak trieft, erinnert es ihn an "Krieg, Schützengraben und Heldentod".

Unter den vielen Szenen dieses Buches, die sich ins Gedächtnis brennen, ragt ein Fußballspiel in einem Dorf heraus, bei dem die Schreie einer misshandelten Bärin den Sieg der eigenen Mannschaft erzwingen sollen.

Diese Odyssee durch 60 Jahre gewalttätiger Individual- und Kollektivgeschichte ist Miljenko Jergović erstaunlicherweise geglückt. Er amalgamiert Gewalt und Alltag, ohne in die Sackgasse einer Nummernrevue zu laufen. Statt der Logik der Eskalation regiert das Verhängnis. Karlo Adum ist keine greifbare Person, aber auch kein bloßes Symbol. Er ist Opfer und Täter zugleich, hilflos und aggressiv, wissend und dumm.

Anfangs hasst er jeden, dann, je näher er dem Ort seiner Kindheit kommt, nur noch Serben und Muslime. Die Reise zum Ursprung führt Adum nicht zu sich, sondern erst in die Angst und dann in den Tod. Das ist Miljenko Jergović' bitterer Kommentar zum nationalistischen Ursprungsdenken, mit dem die Staaten der Region gegeneinander Ansprüche erheben.

Besprochen von Jörg Plath

Miljenko Jergović: Freelander
Roman. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2010
231 Seiten, 19,90 Euro