Ringen um die Worte Gottes

Von Kirsten Dietrich |
Die Mischna ist eine rabbinische Überlieferung, die allen Juden helfen soll, Gottes Gebot im täglichen Leben zu verstehen und mit Sinn zu erfüllen. Eine Einführung in das Mammutwerk wurde nun im Verlag der Weltreligionen veröffentlicht. In dem Buch versucht der Autor und Theologe Michael Krupp, die Mischna aus heutiger Sicht verständlich zu machen.
Michael Krupp will die Vielfalt der Welt des frühen Judentums erhellen, die Zeit ab dem Jahr 70, unserer Zeit, als die jüdische Bevölkerung in der römischen Provinz Palästina vor einer Katastrophe stand: der zweiten und endgültigen Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Jüdische Gelehrte unter Federführung der Gruppe der Pharisäer mussten neu erfinden, was das heißt: jüdisch sein.

"Der erste große Versuch, nach der Zerstörung des Tempels und nach zwei verlorenen Kriegen um die staatliche Unabhängigkeit die Eigenart und die Besonderheit des jüdischen Lebensweges zu definieren und umfassend festzuhalten, bestand in der Kodifizierung aller Traditionen in einem Buch, das den Namen Mischna, ’Lehre’, erhielt. In ähnlicher Weise wie das Neue Testament das entstehende Christentum vom Volk des Alten Testaments, der Hebräischen Bibel, abgrenzt, definiert die Mischna das Judentum in neuer Weise gegenüber allen anderen Strömungen im Judentum, von denen der Pharisäismus sich jetzt, nach dem Untergang des Tempels, meinte unterscheiden zu müssen."

Eines ist die Mischna allerdings nicht: ein fest gefasstes Lehrbuch, das definiert, was jeder Jude wissen muss. Die Mischna ist ein dialogisches Geschehen. Wie Gottes Gebot im täglichen Leben zu verstehen und mit Sinn zu erfüllen ist, darum haben Generationen von Lehrern gerungen. Was dann um das Jahr 200 herum in schriftliche Form gefasst wurde, spiegelt nicht nur die Ergebnisse, sondern zeigt auch den Weg zu ihnen: Die Mischna ist Dialog, auch Streit, vor allen Dingen aber methodisches Ringen mit dem Text.

Beliebig ist das nicht, auch wenn es lange Zeit nur mündlich geschah. Denn Mose, so erzählt es die jüdische Überlieferung, empfing am Berg Sinai nicht nur die schriftlichen Gebote Gottes, die Tora, er brachte in der schriftlichen Tora enthalten auch die mündliche Tora mit, die erst die schriftliche Lehre lebendig für den Alltag des Einzelnen macht.

"Die Mischna ist kein Buch einer Sekte, einer kleinen Gemeinschaft, die nicht über sich selbst hinausschauen konnte. So sind die Probleme, die die Autoren der Mischna umgetrieben haben, nicht immer speziell jüdische. Natürlich sahen sich die Rabbiner in einer von Gott abgefallenen Welt, die in die Irre geht und die es mitsamt der eigenen Gemeinschaft zu retten galt. Aber unter dem Aspekt grundsätzlichem In-Frage-gestellt-Seins als Mensch erlangt die Mischna zuweilen Dimensionen, die, gleich der Bibel, dem Hauptgegenstand der Mischna, eine Botschaft für die ganze Welt enthalten."

Eine Botschaft, die für Michael Krupp auch das Neue Testament für Christen tiefer verstehbar macht, denn durch das Neue Testament zieht sich nicht nur griechisches, sondern auch rabbinisches Denken. Deshalb ist die Überlieferung des Jesus von Nazareth für den Autor eine ganz selbstverständliche Bezugsgröße, verständlich mit Blick auf Krupps Biografie: Er bemüht sich als Theologe und evangelischer Pfarrer seit Jahrzehnten in Israel um christlich-jüdische Verständigung.

Im Buch gibt es allerdings außer einer knappen biografischen Notiz keinen Hinweis auf diesen Hintergrund, so dass der Verweis auf Jesus und christliche Tradition in einer Einführung in jüdisches Denken durchaus irritierend wirkt. Michael Krupp versteht sich als Fremdenführer durch die unbekannte Welt der Mischna. Er tut dies mit großer Liebe zur Sache und mit großem Engagement, wenn er etwa von eigenen Textstudien in den Originalen verschiedener Handschriften berichtet.

Allerdings ist Krupp auch einer dieser Fremdenführer, bei denen es gut ist, den Ort selber schon einmal besucht zu haben, dann kann man vom Reichtum seines Detailwissens wirklich profitieren. Der unerfahrene Erstbesucher dagegen bleibt mit Fragen zurück: So wie der, wie genau der Übergang von mündlicher zu schriftlicher Lehre geschieht. Ist als Mischna nur Mündliches zu verstehen, so wie Krupp nahezulegen scheint, wenn er spezielle Gelehrte beschreibt, die die Mischna auswendig für weitere Beratung präsentierten. Nur wenige Absätze später dagegen heißt es:

"Die Mischna ist nicht nur ein Codex, der die religiösen Gesetze des Judentums enthält, sondern zugleich auch ein Buch, das alle Bereiche des Lebens umfasst."

Michael Krupp bietet Grundlagen, um sich überhaupt der rabbinischen Tradition annähern zu können: Namen und Geschichte der verschiedenen Gelehrten, Einblick in die schwierige Überlieferung des gedruckten oder handschriftlichen Textes, geschichtliches Umfeld. Was der Autor nicht schafft, im Rahmen einer Einführung wahrscheinlich auch nicht schaffen kann: für Außenstehen wirklich nachvollziehbar zu machen, was in der Mischna von den Gelehrten wie besprochen wird.

"Ein Schriftvers sagt: Und als Moses zum Stiftszelt kam, mit ihm zu reden, und ein anderer Schriftvers sagt: Und Moses konnte nicht zum Stiftszelt kommen. Es ist unmöglich zu sagen: ’Als Moses kam’, denn es heißt doch schon: ’Und Moses konnte nicht’ und es ist unmöglich zu sagen: ’Und Moses konnte nicht’, denn es heißt doch schon: ’Als Moses kam’. Da entscheidet der Vers: Denn es ruhte auf ihm die Wolke. Folgere jetzt: Während der ganzen Zeit, in der die Wolke dort war, konnte Moses nicht eintreten; verschwand die Wolke, trat er ein und sprach mit ihm."

Textbeispiele wie dieses zeigen: Zum Verständnis der Mischna braucht man auch heute noch sicher die Hilfe eines Lehrers.

Michael Krupp: Einführung in die Mischna
Verlag der Weltreligionen 2007, 223 Seiten, 17,80 Euro