Neuer Wohnraum

"Alles, nur keine neuen Großsiedlungen"

Hochhaus im Freiburger Problemviertel Weingarten
Die Sünden einer gut gemeinten, aber schlecht gemachten Wohnungsbaupolitik: Hochhaus im Freiburger Problemviertel Weingarten © imago/epd
Christine Hannemann im Gespräch mit Dieter Kassel · 07.03.2016
Wohnen wird in Deutschland derzeit vor allem aus der Investorenperspektive betrachtet - folglich fehlt bezahlbarer Wohnraum. Was müssen wir ändern? Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht, sagt die Wohnsoziologin Christine Hannemann.
Das Recht auf eine Wohnung zählt bisher nicht zu den vom Grundgesetz garantierten Grundrechten. Dafür steht dieses Recht inzwischen in drei Länderverfassungen. Das zeigt guten Willen, hat aber wenig Folgen, denn die Mietrechtsgesetzgebung ist praktisch alleinige Angelegenheit des Bundes.
Dennoch: In Deutschland gebe es seit der Industrialisierung die Übereinkunft, dass Wohnen ein gesellschaftliches Anliegen sei, betont Christine Hannemann, Professorin für Architektur- und Wohnsoziologie am Institut Wohnen und Entwerfen der Universität Stuttgart.
Wege, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, gibt es viele, vom sozialen Wohnungsbau über WBS-Scheine bis hin zur Pendlerpauschale. Doch einen Königsweg gebe es nicht, sagte Hannemann im Deutschlandradio Kultur. Nur bei einer Frage herrsche in der Fachwelt tatsächlich Einigkeit: "Bitte alles, nur keine neuen Großsiedlungen." "Massierter Wohnungsbau" werde sich wohl dennoch nicht vermeiden lassen: "Da ist nur die Frage, mit welcher Qualität".

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: In einigen Teilen Deutschlands ist der Bedarf an bezahlbaren Wohnraum deutlich größer als das Angebot, was auch daran liegt, dass private Investoren gerade in begehrten Gegenden natürlich lieber Luxuswohnungen bauen, die sie dort problemlos für viel Geld verkaufen oder vermieten können, und deshalb wird die Suche nach normalen Wohnungen, in denen man wohnen will, die man aber auch bezahlen kann, für viele Wenig-, aber auch sogar zunehmend für Normalverdiener immer schwieriger. Das ist ein Problem für die Politik sagen manche, aber ist es das, erstens, wirklich, und zweitens, wie könnte die Politik mit diesem Thema umgehen? Darüber wollen wir jetzt mit Christine Hannemann reden, sie ist Professorin für Architektur- und Wohnsoziologie am Institut für Wohnen und Entwerfen der Universität Stuttgart. Schönen guten Morgen, Frau Professorin Hannemann!
Christine Hannemann: Guten Morgen!
Kassel: Ganz grundsätzlich gefragt: Ist denn die Lösung dieses Problems, bezahlbarer Wohnraum für alle, ist das ein Problem, das die Politik lösen muss?
Hannemann: Es kommt darauf an, wie man sich darüber einigt, wer für das Problem zuständig ist. In Deutschland gibt es seit der Industrialisierung, also dem vorvorigem Jahrhundert, die Übereinkunft, dass Wohnen ein gesellschaftliches Anliegen ist. Das können Sie zum Beispiel daran sehen, dass es in der Weimarer Verfassung als Grundrecht aufgenommen war.
Kassel: Das ist bei uns im Grundgesetz so nicht. Ich habe aber jetzt gelernt – mir war das neu –, dass doch in etlichen Landesverfassungen etwas dazu steht, in der bayrischen zum Beispiel, in anderen, wo schon steht, dieses Land jeweils hat die Aufgabe, für bezahlbaren Wohnraum zu sorgen, aber was folgt daraus? Bedeutet das für Sie, der Staat soll selber bauen oder bedeutet das, er soll den Markt entsprechend regeln?
Hannemann: Das ist genau die Frage. Etliche Landesverfassungen ist etwas viel.
Kassel: Sagen wir einige.

Die Hürden für genossenschaftliches Wohnen sind hoch

Hannemann: Drei! Gut, aber auf jeden Fall ist es so, dass natürlich dann dementsprechend auch die landesspezifischen Arten und Weisen des Umgehens damit verschieden sind. Das ist auch wieder eine Frage der Politik, wie das Ganze gestaltet wird. Ob ich zum Beispiel Objekte fördere beim Wohnen oder die Subjekte, die Menschen, die nicht das genügende Geld haben – das ist ja bekannt mit dem Wohngeld – oder, ob ich genossenschaftlichen Wohnungsbau fördere oder, ob ich, so wie in der Bundesrepublik üblich, die Hürden für genossenschaftliches Wohnen sehr hochlege. Das sind alles, so wie wir verfasst und reguliert sind, in unserem Land, in unserer Gesellschaft, politische Entscheidungen.
Kassel: Das heißt aber sogar, wenn Sie jetzt gerade auf das genossenschaftliche Bauen und Wohnen kommen, Sie sind nicht nur der Meinung, dass es Unterlassungssünden gibt bei der Politik, sie tut nicht nur oft nichts, sondern sie tut sogar manchmal genau das Falsche?
Hannemann: Ja, das finde ich schon. Vor allen Dingen, gerade wenn Sie sich in der Immobilienwirtschaft sich die Theorien anschauen, da ist irgendwie seit den 80er-Jahren, ohne dass es jetzt weiter thematisiert wird, aber es wird immer von dieser Sicker-Theorie ausgegangen, vielleicht auch bekannt als Trickle-down-Theorie, dass Luxuswohnungsbau dazu führt, dass untere Wohnungsbestände frei werden und dass praktisch dann ein Nachzug erfolgt. Das ist ein ganz altes Konzept, was immer wieder auch diskutiert wird und immer wieder widerlegt wird. Dann darf man nicht vergessen, in den 90er-Jahren ist ja sehr viel über Bevölkerungsrückgang diskutiert worden, und ich weiß nicht, ob die Studien so bekannt sind, aber die sind davon ausgegangen, dass in Deutschland nur noch 62.000 Menschen 2050 leben werden.
Kassel: 62 Millionen meinen Sie.
Hannemann: Ja, sorry! Es ist zu früh!
Kassel: Das wäre dramatisch, 62.000!

Die Nachfrage nach Wohnraum steigt nach wie vor

Hannemann: Genau! Das ist natürlich aber auch … Auf der anderen Seite ist nicht berücksichtigt worden bei diesen ganzen Überlegungen, dass die Haushalte immer kleiner werden. Wenn es einen Trend gibt in der Bevölkerungsentwicklung, dann ist es der: Weg vom Mehrpersonenhaushalt hin zum Ein-, Zweipersonenhaushalt. Das führt wiederum dazu, dass die Nachfrage nach Wohnraum – und das finde ich wirklich faszinierend –, diese Kurve geht nach wie vor weiter nach oben. Wir waren bei 43 Quadratmetern, sind jetzt bei 45 Quadratmetern. Das ist natürlich auch ein Thema, deshalb ist es vielleicht nicht nur ein politisches, was dazu gehört.
Kassel: Aber nun stellen sich manche Politiker hin – ich will da mal lieber keine Namen nennen, auch aus juristischen Gründen – und sagen, gerade jetzt, wo dieser Mangel an bezahlbarem Wohnraum auch noch verstärkt hervortritt durch den Zuzug vieler Menschen aus anderen Ländern, durch die Flüchtlingsströme, stellen sich hin und sagen, ja, jetzt müssen wir was machen! Vorher war ja nix. Ich meine, das ist doch im Großen und Ganzen, auch wenn man immer wieder Fehler macht, wenn man in die Zukunft schaut, aber das ist doch absehbar gewesen, oder?
Hannemann: Ja, und ich finde das sehr erfreulich! So dramatisch, wie das Ganze ist, aber schon seit den 80er-Jahren beschäftige ich mich mit Wohnen, und das Interesse an dem ganzen Thema, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, aber es war bis vor zwei Jahren überhaupt nicht da. Insofern bin ich natürlich sehr froh darüber, dass mein Fachgebiet jetzt wieder so eine wichtige Rolle spielt.
Kassel: Aber wenn wir uns jetzt mal vorstellen, der Staat finge jetzt an, in großen Mengen selber Wohnungen zu bauen, dann denken wir natürlich, was die DDR angeht, an die Plattenbauten, dann denken wir aber auch, was die Bundesrepublik angeht, natürlich daran, dass gerade, wenn wir heute gucken, man oft sieht, das ist dann der soziale Wohnungsbau, früher, das war dann immer groß, aber nicht unbedingt großartig. Wie kann man denn jetzt …?

Auch das Eigenheim wird vom Staat gefördert

Hannemann: Ja, vor allen Dingen – Entschuldigung –, wir müssen vor allen Dingen an den Einfamilienhausbau denken, weil der größte Anteil sozialen Wohnungsbaus ist in der alten Bundesrepublik Einfamilienhausbau, also Eigenheimpauschale, Pendlerpauschale. Das hat natürlich zu einer sehr starken Zersiedlung geführt. Das ist der Hauptanteil des sozialen Wohnungsbaus.
Einfamilienhäuser und Doppelhaushälften im Rohbau stehen am Mittwoch (11.07.2007) in einer Neubausiedlung in Düsseldorf-Wittlaer.
Das Eigenheim: Traum vieler Familien und vom Staat auf verschiedenen Wegen großzügig gefördert© picture alliance / dpa / Horst Ossinger
Kassel: Das ist sozusagen dann trotzdem das, worauf ich hinauswill: Das ist ein Fehler, den man jetzt vielleicht vermeiden sollte, wenn der Staat wieder aktiver wird. Ich glaube, riesengroße Siedlungen so schnell wie möglich, so einfach wie möglich gebaut, die leicht zu sozialen Brennpunkten werden können. Das ist auch ein Fehler, wo man vielleicht aus der Vergangenheit lernen kann: Wie könnte den staatlicher Wohnungsbau heute funktionieren?
Hannemann: Tja, das ist die alles … Ich weiß nicht, die Lösung, die Antwort habe ich natürlich nicht, um nicht die Nobel-Preis-Metapher zu verwenden, aber auf jeden Fall ist es so, dass verschiedenste Konzepte auch diskutiert werden, Vorschläge da sind. Auch, es gibt inzwischen Flüchtlingsunterkünfte, die mit Architekturpreisen honoriert sind, und wir diskutieren das auch in der Fachzunft – bitte alles, aber keine neuen Großsiedlungen. Wobei sich massierter Wohnungsbau da nicht vermeiden lassen wird. Da ist nur die Frage, mit welcher Qualität.

Warum darf man nicht im Gewerbegebiet wohnen?

Da habe ich die Gelegenheit, noch auf ein anderes Thema einzugehen, was ich mit Leidenschaft verfolge: Wir haben ja die Situation, dass – von den rechtlichen Vorschriften her völlig nachvollziehbar –, aber in den 50er-Jahren die Trennung von Funktionen so festgeschrieben ist. Zum Beispiel, ich darf im Gewerbegebiet nicht wohnen, oder Wohnen in reinen Wohngebieten mit den sogenannten Wohnfolgeeinrichtungen, und das ist natürlich auch, wenn ich von vornherein solche Wohnstrukturen im Kopf habe, wenn ich an Wohnungsneubau denke, dann habe ich natürlich immer die Großsiedlung im Hintergrund.
Kassel: Ich glaube wir werden, und ich würde das gerne auch tun bei nächster Gelegenheit, noch oft über dieses Thema reden. Es bleiben Fragen offen, aber ein paar Antworten haben wir bekommen von Christine Hannemann, Professorin für Architektur- und Wohnsoziologie am Institut für Wohnen und Entwerfen der Uni Stuttgart. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch, Frau Hannemann!
Hannemann: Gerne, bitte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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