Richtige Menschen statt Abziehbilder

Von Hans-Ulrich Pönack · 27.06.2012
Vielen galt der Stoff um den spinnenartigen Superhelden Spider-Man schon als ausgelutscht. Der vierte Film allerdings überzeugt durch ausgestaltete Charaktere, eine spannende Story und eine große Portion Spaß, meint unserer Filmkritiker Hans-Ulrich Pönack.
Als "Reboot" wird der Teil einer Filmreihe bezeichnet, der die bisherigen Geschichten nicht weiterführt, sondern - mit neuartigen Motiven - noch einmal von vorne erzählt. Dieser neue Film ist solch ein Reboot-Movie. Er setzt die bisherigen drei Spider-Man-Filme aus den Jahren 2001, 2003 und 2007 nicht fort, sondern beginnt neu. Zum 50-jährigen Jubiläum dieser Spinne, denn der allererste Auftritt dieser US-Comic-Figur fand 1962 in der August- und zugleich auch letzten Ausgabe der Comic-Heftreihe "Amazing Fantasy" statt.

Die bisherigen Spider-Man 1 bis 3-Blockbuster besaßen einen festen Ensemble-Rhythmus: Sam Raimi war der Regie-Herrscher, in den beiden Hauptrollen traten Tobey Maguire sowie - als totale Fehlbesetzung - Kirsten Dunst als Liebchen des Helden auf. Die Bösewichte bedienten Willem Dafoe, Alfred Molina sowie James Franco. Bei allen drei Filmen wurde viel mit Computertricks und Psychologie hantiert. Stichwort: Laber-Blockbuster.

Das ist hier anders. Erstmals besitzt ein Spider-Man-Film Charaktere. Eine ausführliche, plausible Story. Und zwei Hauptfiguren, bei denen die Chemie stimmt. Dazu gibt es viele Schmunzel- und sogar Lach-Einheiten. Und natürlich auch wieder bombastische Flugeinlagen. Kurzum: "The Amazing Spider-Man" ist eine fantastische Show!

Peter Parker und sein Trauma. Als Kind die Eltern verloren. Die parkten ihn bei Onkel Ben (Martin Sheen) und Tante May (Sally Field). Die erzogen ihn gut. Natürlich wird er zum Außenseiter. Der in der Schule so manche Pöbeleien abbekommt. Irgendwann entdeckt der Jungspund Unterlagen seines Vaters. Was eigentlich waren dessen geheime Forschungen? Worum handelte es sich bei denen?

Peter macht sich auf, um nach seinen Wurzeln zu recherchieren. Und landet im Labor von Dr. Curt Connors, dem früheren Partner seines Vaters. Wird dort von einer radioaktiven Spinne gebissen - ein neuer Held ist auserkoren. Denn Peter vermag nun Dinge zu tun, von denen Normalsterbliche nur träumen dürfen. Alles klar. Das virtuose Spiel kann beginnen. Natürlich in der angesagten und vor allem im letzten Teil wirkungsvollen, hübschen 3D-Optik.

Hinter den Kulissen waren viele Hochkaräter am Werk: Der 83-jährige dreifache "Oscar"-Preisträger Alvin Sargent ("Paper Moon", "Julia" und "Eine ganz normale Familie") sowie der mehrfach "Oscar"-nominierte 51-jährige Autor und Regisseur Steven Kloves (schrieb die Filmbücher für sechs "Harry Potter"-Abenteuer, Autor und Regisseur von "Die fabelhaften Baker Boys",1989, Autor von "Die Wonder Boys", 2000) verfassten ein gescheites Drehbuch. Mit viel angenehm besonnenem Entwicklungspotenzial. Voll von reizvollen Charakter-Figuren und mit einer spannenden Geschichte.

Mit dem 37-jährigen Regisseur Marc Webb kam frisches Blut in das im Grunde eingefahrene Thema und Schema. In seinem zweiten und nunmehr gleich immens großen Film (geschätztes Budget: 220 Millionen Dollar) vermag er dem Althergebrachten neue Unterhaltungsfacetten einzuhauchen. Das Comic-Genre lebt und amüsiert plötzlich wieder. Weil sich Marc Webb zunächst die atmosphärische Zeit nimmt, es vor allem unaufgeregt und dennoch kitzlig angehen und entwickeln zu lassen. Richtige Menschen und keine Abziehbilder-Marionetten werden sicht- und hörbar. Bevor es dann zu toben anfängt. Und: Weil es eben diesmal zwischen dem Paar, zwischen den beiden Hauptdarsteller-Neulingen, außerordentlich prächtig funkt.

Andrew Garfield, 28, neulich in "The Social Network" als Mark Zuckerbergs Kumpel Eduardo Saverin glänzend ("Golden Globe"-Nominierung), kommt als famose Mischung aus verunsichertem Noch-Bubi und imposantem Neu-Held überzeugend rüber. Besitzt Charme und Charisma. Ebenso wie die 23-jährige Emma Stone (der rotzige Frechdachs in "Zombieland", 2009; neulich erst in "The Help" begeisternd) als Highschool-Freundin Gwen Stacy, die in und mit ihrer glaubwürdigen Natürlichkeit charmant punktet. Keine dümmliche Flamme mimt, sondern ungekünstelt wie sympathisch mitmischt.

Ein Rundum-Vergnügen, das ist dieser vierte Spider-Man-Film geworden. Ganz erstaunlich für ein vorher so ausgelutscht geglaubtes Genre. Und Getue. "The Amazing Spider-Man" ist ein bravouröser, einfallsreicher wie sehr unterhaltsamer Sauerstoff für den neuen Spinnenmann. Der wiederkommen wird.

USA 2012, Regie: Marc Webb, Hauptdarsteller: Andrew Garfield, Emma Stone, Rhys Ifans, Martin Sheen, Sally Field, 136 Minuten, ab 12 Jahren

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