"Richtig verstandene Toleranz"

Paul Scheffer im Gespräch mit Frank Meyer · 11.11.2008
Der Migrationsforscher Paul Scheffer plädiert dafür, Forderungen an Migranten wie den Erwerb der Landessprache zu stellen. Nur so könnten sie sich als Mitbürger qualifizieren. Die Frage der Religionsfreiheit sei eine Herausforderung sowohl für Christen als auch Muslime. Der niederländische Soziologe stellt zurzeit in Deutschland sein Buch "Die Eingewanderten" vor.
Frank Meyer: In der Stadt Amsterdam sind die Hälfte aller Einwohner Immigranten. Zwei Drittel aller Schüler kommen aus Immigrantenfamilien. Die niederländische Debatte über das Zusammenleben in einem Einwanderungsland hat ganz entscheidend der Soziologe Paul Scheffer angestoßen, im Jahr 2000 mit einem Artikel unter dem Titel "Das multikulturelle Drama". Die Lage heute beschreibt Paul Scheffer so: "Wir haben die Zeit des Ausweichens und des Verdrängens hinter uns. Wir leben heute im Zeitalter der Konfrontation." Paul Scheffer stellt zurzeit sein Buch "Die Eingewanderten" in Deutschland vor. Jetzt ist er hier im Studio von Deutschlandradio Kultur. Paul Scheffer, wenn Sie sagen: Wir leben im Zeitalter der Konfrontation - wie sieht das aus, diese Konfrontation in den Niederlanden?

Paul Scheffer: Wir leben in einer Zeit, die sehr konfliktreich ist. Und wenn man die Geschichte von Immigrationsbewegungen, auch in den Vereinigten Staaten, im 19. Jahrhundert sieht, dann sieht man immer, dass Immigration große gesellschaftliche Änderungen mit sich bringt, und das wirbelt eine Gesellschaft auf und das führt auch zu Konflikten, Anpassungsproblemen und Reibungen. Also in einer Stadt wie Amsterdam sieht man das auch. Man sieht eine neue soziale Frage, es gibt eine hohe Anzahl von Arbeitslosen innerhalb Migrantengemeinschaften, es gibt ein Qualifikationsdefizit für viele Kinder aus Migrantenfamilien, und es gibt eine neue kulturelle und religiöse Frage: Wie leben Muslime in einer liberalen säkularen Gesellschaft. Also große Fragen.

Meyer: Und was hat sich da verändert, was hat diese Konflikte jetzt zum Ausbruch gebracht, diese Konfrontation heraufbeschworen?

Scheffer: Na ja, man kann sagen, dass wir lange Zeit gelebt haben mit einer falsch verstandenen Toleranz. Wir haben weggeschaut. Es war eigentlich eine Art der Indifferenz. Und jetzt stellt sich die Frage, wie leben wir hier zusammen. Also, die Mehrheitsgesellschaft ist aufgefordert, sich mal zu fragen, sind wir wirklich offen für eine neue Religion. Aber das ist nicht nur in Amsterdam. Ich war gerade gestern in Pankow und habe diese Bürgerinitiative gesehen, und davon gehört, gegen einen neuen Moscheebau. Also, die Mehrheitsgesellschaft ist aufgefordert, um mal neu zu überdenken, ob man Religionsfreiheit, wie man das versteht. Aber auch die muslimischen Gemeinschaften sind eingeladen, um neu zu überdenken, was es bedeutet für eine religiöse Minderheit, in einer liberalen Gesellschaft mit dem Glauben umzugehen. Und da sieht man, dass auch Muslime sich schwer tun mit Religionsfreiheit, denn gibt es eine wirkliche Akzeptanz für Menschen mit einem anderen Glauben oder Ungläubige oder Menschen, die früher mal Muslime waren und es jetzt nicht mehr sind, so Glaubensabfällige.

Meyer: Wenn wir bei dem Beispiel Moscheebau mal bleiben, da gibt es ja in Deutschland verschiedene Vorgänge. Es gibt die Städte, in denen sich Widerstand bildet gegen den Bau neuer Moscheen, es gibt aber auch andere Beispiele, dass das im Einvernehmen mit den muslimischen Gemeinden passiert. Wie ist das in den Niederlanden, wie viel Widerstand gibt es da?

Scheffer: Ja, es gibt Kontroversen, aber zum Beispiel in Rotterdam wird jetzt eine Moschee gebaut, 50 Meter hoch. Und dann gab es natürlich auch Leute …

Meyer: Also eine deutlich sichtbare Moschee.

Scheffer: Ja, sehr sichtbar, auch mit den expliziten Ambitionen, um die Skyline Rotterdams mit zu prägen. Und ich finde das gut. Im Grunde genommen kann es nicht so sein, dass in einer Gesellschaft, wo es ein Grundgesetz gibt, wo Religionsfreiheit schwer betont wird, dass man sagt, es kann keinen Platz geben für Muslime. Aber Muslime müssen sich selbst fragen, wie leben wir hier als Minderheit in dieser Gesellschaft. Sind wir wirklich offen oder verriegeln wir uns und leben wir unsere Religion, wie wir die aus den Herkunftsländern kennen, wo Islam eine Mehrheitsreligion immer oder quasi ein Monopol hat. Und das ist natürlich immer eine konfliktreiche Geschichte.

Meyer: In Deutschland sind diese Konflikte in der vergangenen Woche wieder auf den Tisch gekommen, da hatten wir hier einen sogenannten Integrationsgipfel mit Politikern und Vertretern von Migrantenverbänden. Und dort haben eigentlich die Themen für Debatten gesorgt, vor allem die etwas mit Forderungen an die Migranten zu tun haben, zum Beispiel der neue Einbürgerungstest, den es in Deutschland gibt, oder die jetzt verlangten Sprachtests für nachziehende Ehegatten oder die Heraufsetzung des Mindestalters für nachziehende Ehegatten. Geht die Tendenz in den Niederlanden auch in diese Richtung, dass man mehr fordert von den Migranten?

Scheffer: Ja, aber ich glaube, das ist ein Zeichen einer richtig verstandenen Toleranz. Das heißt, man fordert etwas, aber das heißt, dass man Migranten als Mitbürger sieht. Nicht als Opfer, nicht als Minderheit, die beschirmt werden soll, sondern als Mitbürger herausfordert, sagt, ihr seid Mitgestalter dieser Gesellschaft, und natürlich jede Forderung fordert auch etwas von der Aufnahmegesellschaft. Die muss dann nämlich auch Mittel zum Beispiel zur Verfügung stellen, dass Leute auch Sprache lernen können. Die muss sich engagieren. Ich glaube, wir haben eine lange Zeit in einer Kultur der Vermeidung gelebt mit der Annahme, dass die Gastarbeiter aus der Türkei zum Beispiel eigentlich Passanten sind und nicht Mitbürger, wieder zurückgehen. Und jetzt leben wir natürlich mit dem Bewusstsein, dass es Migration gibt, dass es in der Zukunft Migration geben wird. Und man fragt sich, was brauchen wir an Gemeinsamem, um zusammenzuleben. Zum Beispiel, dass wir eine gemeinsame Sprache haben und uns verständigen können.

Meyer: Wie weit würden Sie da gehen, sollten zum Beispiel Migranten auch auf die Verfassung der Länder, in denen sie jetzt leben, schwören müssen?

Scheffer: Ach, schwören, schwören. Ich glaube, man sollte es so sehen: Wir haben in den Niederlanden Migranten gefragt, ihr sollt doch etwas wissen von der Verfassung und unseren Grundwerten, zum Beispiel Religionsfreiheit. Und dann kam die Frage natürlich immer zurück: Was wisst ihr eigentlich selbst von dieser Verfassung? Und das hat bei uns eine ganze Diskussion mit sich gebracht, die zu einer Änderung im Bildungswesen geführt hat, dass wir jetzt mehr Geschichtsunterricht haben, mehr Verfassungsunterricht und Unterricht nicht nur wahrnehmen als eine Vorbereitung auf eine Berufspraxis, sondern auch auf eine Bürgerschaftspraxis. Meine These in diesem Buch ist eigentlich grundsätzlich, man kann nicht über Einbürgerung reden, ohne eine klare Idee zu haben über Bürgerschaft. Also diese Integrationsdebatte berührt jeden. Es gibt kein Problem mit Migranten, sondern die Probleme, die es um die Migration gibt, fordern die ganze Gesellschaft auf, um ihre Institution neu zu überdenken, Versorgungsstaat, Bildungswesen, und ihre Freiheiten neu zu überdenken, was ist Religionsfreiheit, was ist Freiheit von Meinungsäußerung. Und das ist produktiv.

Meyer: Sie haben jetzt die Konsequenzen zum Beispiel für den Schulunterricht geschildert. Was sind andere Konsequenzen dieses neuen Nachdenkens der niederländischen Gesellschaft über sich selbst?

Scheffer: Ich glaube überhaupt nicht, dass es ein niederländisches Problem ist. Ich sehe das überall in Europa.

Meyer: Aber wir können vielleicht bei dem Beispiel bleiben der Niederländer.

Scheffer: Gut, Beispiel Niederlande, zum Beispiel gibt es eine ganze Debatte über die Kombination von Versorgungsstaat und Immigration. Und wir können beobachten, dass ein Großteil der Migranten arbeitslos ist, in Abhängigkeit in dem Sozialstaat geraten sind, und jetzt gibt es eine Debatte, wie soll man den Versorgungsstaat reformieren. Und jetzt hat es zum Beispiel ein Gesetz gegeben, dass man sagt, unter 27 gibt es keinen Zugang zum Sozialstaat mehr. Ob man arbeitet oder ob man sich weiterbildet. Und das ist produktiv. Weil das ist nicht nur in Bezug auf Migranten, sondern auf jeden. Man kann etwas lernen aus dieser Migrationsgeschichte. Es zeigt uns die Stärken, aber auch die Schwächen einer Gesellschaft. Und in diesem Sinne glaube ich, dass im Hochdruckkessel in den Niederlanden viel passiert ist. Und jetzt haben wir einen Oberbürgermeister in Rotterdam, zweite Stadt in den Niederlanden, der ersten Generation marokkanischer Migranten. Das ist auch ein Zeichen, dass dieser Konflikt und diese konfliktreiche Debatte zu einer gesellschaftlichen Änderung beigetragen hat.

Meyer: Ein Barack Obama von Rotterdam, wenn man so will.

Scheffer: Na ja, das hofft man. Aber Barack Obama ist auch so interessant für uns, weil er konsequent über ethnische Trennungslinien hinaus denkt. Und das ist für mich die Herausforderung unserer Zeit, eine Gesellschaft nicht nur zu sehen als eine Versammlung von ethnischen und Glaubensgemeinschaften, aber nachzudenken, was brauchen wir an Gemeinsamem, um mit all diesen Differenzen, ethnische Differenzen, religiöse Differenzen, zusammenzuleben. Und Multikulturalismus war eine Strategie der Vermeidung, des Nebeneinanders. Jetzt sind wir an einer Zeit, dass wir konfliktreich suchen nach einer Antwort auf die Frage, wie leben wir miteinander.

Meyer: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem niederländischen Soziologen und Migrationsforscher Paul Scheffer. Er stellt zurzeit in Deutschland sein Buch "Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt" vor. Und ich würde gerne noch von Ihnen wissen, wo sind aber auch die Grenzen dieser Toleranz? Wir reden ja immer von einem oder viele reden von einem christlich geprägten Europa. Wenn wir nun erleben, dass unsere Länder immer mehr auch muslimisch geprägt werden, was glauben Sie, wie weit kann das gehen, wie weit erträgt das die Bevölkerung, die ursprünglich christliche Bevölkerung?

Scheffer: Na ja, man soll sehen, dass es auf beiden Seiten ein Gefühl des Verlustes gibt. Für Muslime ist es schwierig, in so einer Gesellschaft wie die unsere einen Weg zu finden, und die haben das Gefühl, wir verlieren unsere Kinder an eine Gesellschaft, die wir wesentlich nicht verstehen, oder wenn wir die Gesellschaft verstehen, dann fragen wir uns, was ist die Moral dieser Gesellschaft. Das ist ein Gefühl des Verlustes. Es gibt auch ein Gefühl des Verlustes aufseiten der Aufnahmegesellschaft, wie Sie angedeutet haben. Die, die Gesellschaft verstehen, ist eine christlich geprägte Gesellschaft, und jetzt leben in Städten, wo es viele Muslime gibt. In den Niederlanden, eine Stadt wie Amsterdam, 20 Prozent der Bevölkerung sind jetzt Muslime. Es zwingt uns, unsere Freiheiten neu zu überdenken. Und ohne ein geteiltes Verständnis von Religionsfreiheit kommen wir nicht aus diesem Konflikt zu einer neuen Akkumulation. Aber ich glaube grundsätzlich, dass es möglich ist.

Meyer: "Die Eingewanderten. Toleranz in einer grenzenlosen Welt", so heißt das Buch des niederländischen Soziologen und Migrationsforschers Paul Scheffer, das er in diesen Tagen in Deutschland vorstellt. Das Buch ist im Hanser Verlag erschienen und für 24,90 Euro zu haben. Paul Scheffer, vielen Dank für das Gespräch!

Scheffer: Gerne.