Simon Wiesenthal: "Die Sonnenblume"

Die Grenzen der Vergebung

Der Auschwitz-Überlebende und "Nazi-Jäger" Simon Wiesenthal.
Der Auschwitz-Überlebende und "Nazi-Jäger" Simon Wiesenthal. © dpa / picture alliance / epa Schlager
Von Peter Kaiser · 08.01.2016
Mit seiner Erzählung "Die Sonnenblume" schrieb der Holocaust-Überlebende und Nazi-Jäger Simon Wiesenthals eine Geschichte über die Vergebung. Das Buch erschien 1970 erstmals in Deutschland - und geriet in Vergessenheit. Nun wurde es neu aufgelegt.
Der 2005 gestorbene Architekt und Holocaust-Überlebende Simon Wiesenthal - bekannt als Nazi-Jäger - konzipierte seine Erzählung "Die Sonnenblume", zuerst 1970 in Deutschland erschienen, wohl von Anfang an als eine Art "Globales Buch". Gemeint ist damit, dass die zentrale Frage, die die Erzählung beherrscht, weltweit und auch im Wandel der Zeiten beantwortet werden müsste. Doch worum geht es?
1942 ist der jüdische Protagonist Simon im KZ-Lager Lemberg interniert. Mit Neid sieht Simon auf dem Weg zur Arbeit, wie auf frischen Soldatengräbern Sonnenblumen blühen. Auf seinem Grab, meint Simon, wird nichts blühen, da es voller Leichen sein wird. Eines Tages wird Simon zu einem sterbenden jungen SS-Mann gerufen, der ihn um Vergebung für die Grausamkeiten bittet, die er anderen Juden angetan hat. Obwohl Simon Mitleid empfindet, verweigert er dem SS-Mann die Vergebung. Nicht ohne mit dieser Entscheidung später zu hadern.
Das Konzept der Erzählung, in der Neuauflage nur etwas über 100 Seiten lang, ist explosiv. Denn dem Buch sind in Deutschen Ausgabe von 1970 Antworten hochrangiger Persönlichkeiten wie Carl Zuckmayer, Luise Rinser, Jean Amery, Hellmut Gollwitzer und anderer zur Frage beigefügt, ob Simon hätte vergeben sollen?
"Die erste Auflage, 1970 in Deutschland, das waren so 44 Autoren oder Persönlichkeiten, die haben ihre Antworten zu Wiesenthals Fragen geschrieben, und viele Antworten klangen so ein bisschen verstaubt. Und in den anderen Ländern wurden die immer wieder aktualisiert, und es gab immer neue Antworten."
In der 2015er-Auflage geben der Dalai Lama, Desmond Tutu, Marcel Ophüls und andere neue Antworten auf die Frage nach Vergebung. Diese Antworten sind, 70 Jahre nach der Befreiung der KZs und vor dem Hintergrund der politischen Umwälzungen weltweit, von großer Bedeutung. Die Zeit für dieses Buch könnte darum auch nicht besser sein. Dabei kam Nicola Jungsberger mit dem Text zufällig nur in Kontakt.
"Ich habe dieses Buch 2008 entdeckt, als ein Freund von mir in Philosophie seine Doktorarbeit darüber geschrieben hat. Und fand das ein perfektes Buch um den Holocaust oder andere Gräueltaten zu besprechen, zu analysieren, und zu verstehen wie es sowohl zu so was kommen kann, als auch wie man damit später umgehen kann. Und habe dann entdeckt, dass es kein Mensch kennt, aber dass es in 20 Sprachen übersetzt worden ist, und in den USA und Frankreich zum Beispiel in den Schulen und Universitäten benützt wird."
Die Erzählung hat an Aktualität nicht verloren
Nicola Jungsbergers großer Initiative und Energie ist es zu verdanken, dass sie von Wiesenthals Familie die Rechte an der Erzählung bekam. Auch gelang es ihr im Europa Verlag Berlin einen kongenialen Verleger zu finden. Zudem konnte sie auch andere Stimmen zum Buch gewinnen. Eine davon ist der Philosoph, Theologe und Vizepräsident der Freien Universität Berlin, Michael Bongart. Er veranstaltet gerade vor dem Hintergrund des Buches ein Seminar.
"Also das Seminar hat einen etwas offeneren Titel: Was kommt nach der bösen Tat? Und es ist ein wichtiges Anliegen von mir in religiöser und philosophischer Hinsicht die Frage zu erörtern, ob Vergebung möglich, erlaubt oder vielleicht sogar geboten ist? Für mich bleibt eine Sache wichtig, die ich auch selbst in den Kommentaren zu Wiesenthal benannt habe, ich bin nach wie vor der Auffassung, dass es allein den Opfern schuldhafter Taten überhaupt erlaubt ist zu vergeben."
Wie aktuell Simon Wiesenthals Erzählung ist, zeigt die Antwort von Jalda Rebling, Kantorin, Sängerin und eine der im Buch versammelten Stimmen. Sie antwortet auf die Frage, ob das Buchthema sich im Laufe der Zeit verändert hat.
"Mit Verlaub, aus jüdischer Perspektive nicht. Denn wir haben ein völlig anderes Konzept von Vergebung, als es in christlicher Tradition üblich ist. Also Übertretungen, die ich Gott gegenüber begangen habe, die kann Gott mir vergeben. Aber die Übertretungen von Mensch zu Mensch, die können nur die Menschen miteinander klären. Und ich habe kein Recht, für jemand anderen eine Vergebung zu geben, wenn es nicht meine Geschichte ist. Also im Klartext: Wenn jemand mich um Verzeihung bittet, weil seine Großeltern meine Großeltern in Auschwitz ermordet haben, wenn er mich darum bittet, dass ich ihm verzeihe, kann ich nur sagen: Das kann ich nicht. Das können nur diejenigen, denen es angetan worden ist."
"Die Sonnenblume" von Simon Wiesenthal ist ein wichtiges Buch, damals wie heute. Man kommt schnell in die Geschichte, meint Nicola Jungsberger:
"Die ist ja sehr visuell geschrieben, ein bisschen naiv könnte man sagen, wo man eben reintauchen kann in die Geschichte, und eigentlich so ein bisschen beide versteht, oder beide kennen lernt, und das ist ja ein wunderbarer Anfang für eine Diskussion."
Darum geht es, um die Diskussion, um das Aufblühen neuer, viele "Sonnenblumen".
Mehr zum Thema