Rezitation als Kunstform
Die Tagebücher Franz Kafkas sind noch immer eine Fundgrube für aufmerksame Leser. Lothar Müller, Literaturredakteur der "Süddeutschen Zeitung", hat sie nach Notizen über Reden und Rezitationen durchforstet und ist so oft fündig geworden, dass der Essay "Die zweite Stimme" entstanden ist.
Der damals noch unbekannte Dichter und Beamte der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt beurteilt die Stimmen der Schriftsteller Franz Werfel und Hugo von Hofmannsthal sowie der Schauspieler Gertrud Eysoldt und Alexander Moissi. Kafka spricht auch selbst: Er liest Zuhause auch dem widerstrebenden Vater vor und stellt einen Rezitationskünstler öffentlich vor.
Die Vortragstexte zur Zeit Kafkas sind durchweg Büchern entnommen. Noch steckt die technische Aufzeichnung von Stimmen durch Phonographen in den Kinderschuhen, und das Radio mit seiner alltäglichen Verbreitung körperloser Stimmen wird erst erfunden. Müller nennt Kafka daher einen "lebendigen Phonographen" in der "Hochblüte" der "Stimme-Buch-Koppelung". Kafka hält aufmerksam Sprachfärbungen fest, und er registriert die Kraft der öffentlichen Rede auch an sich selbst, wenn ihn seine Worte bei der Einführung zur Rezitation des jiddischen Schauspielers Jizchak Löwy mit sich reißen.
Die Rezitationskultur emanzipierte sich als Kunstform von dem Schriftsteller, der seine Werke selbst vortrug, sowie vom Theater, der Bühne und dem pathetisch-rollenden R. Die vorherrschende klassizistische Sprechweise lässt der Naturalismus dann veraltet wirken. Er fordert psychologische Nuancierungen und fördert individuelle Vortragsarten. Als moderner Sprecher gilt um 1900 der Schauspieler Josef Kainz, ebenso der Reinhardt-Schauspieler Alexander Moissi.
Moissis musikalische Vortragsweise wird von Kafka kritisiert: "Trotzdem so viele Melodien zu hören waren, die Stimme gelenkt schien wie ein leichtes Boot im Wasser, war die Melodie der Verse eigentlich nicht zu hören." Müller nennt das einen "paradoxen Befund". Er erkennt darin erstaunlicherweise nicht die Forderung eines werdenden Autors, der Rezitationskünstler möge sich in den Dienst des Verseverfassers stellen, statt mit ihm zu wetteifern und sich in den Vordergrund zu schieben.
Von dem prekären Verhältnis der Vortragskünstler zum Texturheber ist in dem Buch nicht die Rede. Lothar Müller ist es wichtiger, den Begriff der "sekundären Oralität", den Walter J. Ong 1985 für Formen der Mündlichkeit in der Schrift- und Computerkultur prägte, auf frühere Zeiten anzuwenden. Stimme und Schrift seien nicht Rivalen, wie es Marshall McLuhan in seiner einflussreichen Mediengeschichte behaupte; die Schrift löse nicht die Stimme ab. Vielmehr führe der Siegeszug der Schriftkultur um 1800 zur Ausbildung einer "sekundären Oralität". Wer stumm lese, habe die Stimmen im Kopf. Im Bekannten- und Freundeskreis werde weiterhin viel vorgelesen, und hinzu kämen Vortragskünstler. Müller beschreibt die Vorgeschichte unserer heutigen Lesungs- und Hörbuchkultur.
Doch sein Ausblick auf die Beziehung von Schrift und Stimme seit Goethe fällt recht kursorisch aus, jener in die Gegenwart fehlt gänzlich. "Die zweite Stimme" konzentriert sich auf die Vortragskunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Offenbar hat Lothar Müller vor allem über Kafka schreiben wollen. Der Untertitel "Vortragskunst von Goethe bis Kafka" weckt sehr viel umfassendere Erwartungen.
Rezensiert von Jörg Plath
Lothar Müller: Die zweite Stimme. Vortragskunst von Goethe bis Kafka
Mit einer CD. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2007
158 S., 24,95 Euro
Die Vortragstexte zur Zeit Kafkas sind durchweg Büchern entnommen. Noch steckt die technische Aufzeichnung von Stimmen durch Phonographen in den Kinderschuhen, und das Radio mit seiner alltäglichen Verbreitung körperloser Stimmen wird erst erfunden. Müller nennt Kafka daher einen "lebendigen Phonographen" in der "Hochblüte" der "Stimme-Buch-Koppelung". Kafka hält aufmerksam Sprachfärbungen fest, und er registriert die Kraft der öffentlichen Rede auch an sich selbst, wenn ihn seine Worte bei der Einführung zur Rezitation des jiddischen Schauspielers Jizchak Löwy mit sich reißen.
Die Rezitationskultur emanzipierte sich als Kunstform von dem Schriftsteller, der seine Werke selbst vortrug, sowie vom Theater, der Bühne und dem pathetisch-rollenden R. Die vorherrschende klassizistische Sprechweise lässt der Naturalismus dann veraltet wirken. Er fordert psychologische Nuancierungen und fördert individuelle Vortragsarten. Als moderner Sprecher gilt um 1900 der Schauspieler Josef Kainz, ebenso der Reinhardt-Schauspieler Alexander Moissi.
Moissis musikalische Vortragsweise wird von Kafka kritisiert: "Trotzdem so viele Melodien zu hören waren, die Stimme gelenkt schien wie ein leichtes Boot im Wasser, war die Melodie der Verse eigentlich nicht zu hören." Müller nennt das einen "paradoxen Befund". Er erkennt darin erstaunlicherweise nicht die Forderung eines werdenden Autors, der Rezitationskünstler möge sich in den Dienst des Verseverfassers stellen, statt mit ihm zu wetteifern und sich in den Vordergrund zu schieben.
Von dem prekären Verhältnis der Vortragskünstler zum Texturheber ist in dem Buch nicht die Rede. Lothar Müller ist es wichtiger, den Begriff der "sekundären Oralität", den Walter J. Ong 1985 für Formen der Mündlichkeit in der Schrift- und Computerkultur prägte, auf frühere Zeiten anzuwenden. Stimme und Schrift seien nicht Rivalen, wie es Marshall McLuhan in seiner einflussreichen Mediengeschichte behaupte; die Schrift löse nicht die Stimme ab. Vielmehr führe der Siegeszug der Schriftkultur um 1800 zur Ausbildung einer "sekundären Oralität". Wer stumm lese, habe die Stimmen im Kopf. Im Bekannten- und Freundeskreis werde weiterhin viel vorgelesen, und hinzu kämen Vortragskünstler. Müller beschreibt die Vorgeschichte unserer heutigen Lesungs- und Hörbuchkultur.
Doch sein Ausblick auf die Beziehung von Schrift und Stimme seit Goethe fällt recht kursorisch aus, jener in die Gegenwart fehlt gänzlich. "Die zweite Stimme" konzentriert sich auf die Vortragskunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Offenbar hat Lothar Müller vor allem über Kafka schreiben wollen. Der Untertitel "Vortragskunst von Goethe bis Kafka" weckt sehr viel umfassendere Erwartungen.
Rezensiert von Jörg Plath
Lothar Müller: Die zweite Stimme. Vortragskunst von Goethe bis Kafka
Mit einer CD. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2007
158 S., 24,95 Euro