Sten Nadolny: "Herbstgeschichte"

Drei alte Freunde und eine rätselhafte Frau

04:38 Minuten
Buchcover: Sten Nadolny "Herbstgeschichte"
© Piper Verlag

Sten Nadolny

HerbstgeschichtePiper Verlag, München 2025

240 Seiten

24,00 Euro

Von Wolfgang Schneider |
Audio herunterladen
Drei ältere Herren und eine Frau, die das Desaster anzieht. Aus dieser Konstellation entwickelt Sten Nadolny eine selbstreferenziell verschachtelte Geschichte, die reich an Schicksalsschlägen, merkwürdigen Zufällen und Erzählwitz ist.
„Herbstgeschichte“ handelt von drei älteren Herren aus der Kreativwirtschaft, die einst zusammen die Schulbank gedrückt haben. Michael wurde nach einigen beruflichen Umwegen Schriftsteller; sein Selbstvertrauen blieb aber brüchig, auch wenn er sich zeitweise „Mike“ nennen ließ und coole Lederjacken trug.
Bruno dagegen ist ein eckiger Charakter – ein glänzender Schauspieler, der sein eigenes Theater gegründet hat. Titus schließlich hat Drehbücher für Serien à la „Traumschiff“ geschrieben und wird scherzhaft „Schnulzenkonstrukteur“ genannt, was nicht gerade eine vertrauensbildende Maßnahme ist, wenn er nun seinen ersten Roman vorlegt – den nämlich, den wir lesen.
Die Handlung beginnt im Jahr 1998. Nach einem zufälligen Wiedersehen in Düsseldorf unternehmen Michael und Bruno eine gemeinsame Zugreise nach Zürich. Ihr Gespräch verläuft schleppend. Dann aber setzt sich eine fragile Schönheit mit dem unwahrscheinlichen Namen Marietta Robusti zu ihnen, und sie erkennt sowohl Bruno wie Michael.
Die beiden Mittfünfziger fühlen sich enorm geschmeichelt, obwohl sie wenig Grund dafür haben, denn die etwas gehetzt wirkende junge Frau besitzt eine außergewöhnliche Begabung, ein fotografisches Gedächtnis für Gesichter. Deshalb hat sie auch einen riskanten Nebenjob, sie identifiziert als Superrecognizerin Kriminelle für die Polizei.

Eine Frau, die ständig in Gefahr ist, weil sie wie eine Überwachungskamera funktioniert und weil das bestimmten Leuten Sorge macht, die nicht wiedererkannt werden wollen.

Bruno und Michael bieten ihre Hilfe an. Es ist der Anfang einer Kette mysteriöser Ereignisse. Zunehmend werden sie involviert in die Lebensgeschichte einer Frau, der sie fortan immer wieder begegnen und die das Unglück anzieht wie ein Magnet. Überfälle, Krankheiten, Missgeschicke – ein weiblicher Hiob.
In ihrer Kindheit wurde Marietta von einem Verwandten missbraucht. Sie leidet an Panikattacken und Magersucht und gerät in die Fänge einer Sekte. Einige Jahre nach dem ersten Treffen zwingt sie eine Muskelerkrankung in den Rollstuhl; ein Tumor erfordert die Entfernung eines ihrer scharfsichtigen Augen.
Aber Marietta begreift sich nicht als Opfer, sondern als „Survivor“. Ein rätselhafter Zauber umgibt sie, so dass Michael und Bruno von diesem menschlichen Problembündel nicht loskommen.

Fügungen und Zufälle

Es gibt in diesem Roman viele merkwürdige Zufälle und unwahrscheinliche Begegnungen. Religiöse Menschen sprechen von Fügung, Dramatiker vom Schicksal, Literaturkritiker von Kolportage. Nadolny weiß das natürlich. Wenn er es dennoch tut, dann – möchte man sagen – nicht zufällig und nicht ohne Augenzwinkern.

Jetzt essen wir doch erst einmal einen Happen, rufe ich. Es wird ja alles kalt über diesen ganzen Fügungen.

Nadolnys Stil ist gediegen-traditionell, der Aufbau des Buches dagegen vertrackt und perspektivisch verschachtelt. Michael und Titus diskutieren, wie man aus der Geschichte mit Marietta einen Roman machen könnte, der wiederum Vorstufe für ein Filmdrehbuch sein soll.
Michael überlässt Titus dann seine Notizen und sein Material, weil er selbst zu sehr darin verstrickt sei. Wenn sich die eitlen Herren gegenseitig zu Romanfiguren machen, stimmen Außen- und Innenperspektive oft nicht ganz überein. So schreibt Titus, Michael lebe und arbeite nach der misanthropischen Devise …

"Bleib mir vom Leib und lest meine Bücher." Dieser Satz – er hatte ihn wirklich einmal geschrieben, wenngleich im Scherz – umriss zutreffend, was er zu geben bereit war und was er erwartete.

Aber es ist Michael, der nicht nur eine Zweitkarriere als Lebensberater startet, sondern sich auch zwei Jahrzehnte lang um Marietta kümmert und darüber seine eigene Ehe in die Brüche gehen lässt. Ein schwerer Fall von Helfersyndrom mit einem Einschlag von Liebe.

Demütigungen des Alters

Ironisch und melancholisch zugleich erzählt Nadolny auch vom Altwerden. Michael erleidet – neben anderen Malaisen – einen Schulterriss beim Entkorken einer widerspenstigen Weinflasche. Nur in seinen Träumen ist der Körper noch fit wie eh und je. Bis plötzlich auch das nächtliche Traumkino das Programm ändert:

Er war dort nun immer öfter hilflos, desorientiert, fand sich nicht mehr zurecht, vergaß auf chaotischen Reisen nach und nach sein gesamtes Gepäck … Ihm widerfuhren Demütigungen ohne Ende, und in unheimlichen Anstalten erlebte er ein höhnisch grinsendes Personal. … Wahrscheinlich schauten diese Träume sehr treffsicher in die Zukunft eines ehemaligen Schriftstellers namens Michael Waßmuß.

Bruno wird unterdessen zum Opfer der Cancel-Kultur. Unbegründet bezichtigt man ihn der Belästigung von Schauspielerinnen. Durch seine trotzigen Reaktionen wird er noch mehr angefeindet und muss die Leitung seines Theaters aufgeben. Angewidert von den woken „Heuchlern und Opportunisten“ verlässt er Deutschland – mit Marietta.

Ein Gruß aus dem Jahr 2027

Dennoch nimmt der Roman ein freundliches, versöhnliches Ende. Um ein paar Erzählfäden final zurechtzuzupfen, meldet sich im Epilog als „nicht erfundener“ Autor noch Sten Nadolny selbst zu Wort, allerdings aus der überraschend aufgehellten Zukunft des Jahres 2027. Zum selbstreferentiellen Spiel gehören auch die Echos aus früheren Werken Nadolnys, wenn gesegelt oder Zug gefahren wird oder von Polarforschern die Rede ist.
Nicht ganz überzeugend ist die Methode, mit der Nadolny und seine Erzähler Zeitkolorit schaffen: Im Chronikstil werden einfach politische Ereignisse aufgezählt. Stark ist dagegen die Darstellung der komplexen Charaktere.
„Herbstgeschichte“ ist ein Roman, der von der Hinfälligkeit, aber auch der Widerstandsfähigkeit des Menschen erzählt. Und der den Spaß an erzählerischen Kapriolen mit einer humanen Botschaft verbindet: Nicht aufgeben, es wird sich schon fügen! Hoffentlich.
Mehr zu Literatur über Freundschaft und Altwerden