"Kampf ums Unbewusste"

Psychoanalyse schult die Skepsis

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Buchcover "Kampf ums Unbewusste"
© Aufbau Verlag

Tilo Held, Christina von Braun

Kampf ums Unbewusste. Eine Gesellschaft auf der CouchAufbau Verlag, Berlin 2025

736 Seiten

34,00 Euro

Von Andrea Gerk |
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Was kann die Psychoanalyse heute leisten? Eine ganze Menge, sagen Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun und Psychiater Tilo Held in ihrem ersten gemeinsamen Buch – und zeigen, wie sie hilft, Ideologien kritisch zu durchschauen.
Als ein Experiment beschreiben die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun und der Psychiater Tilo Held ihr erstes gemeinsames Buch. Und das schon gleich im Vorwort. Das Wagnis liege nicht nur darin, als Ehepaar, das seit fünfzig Jahren verheiratet ist, zum ersten Mal gemeinsam ein Buch zu schreiben, sondern auch im Thema selbst. „Das Unbewusste“ ist ein schwer zu definierender und umkämpfter Begriff, dem sich die beiden aus ihrer jeweiligen Fachperspektive kenntnisreich und detailliert nähern und das in zwei voneinander unabhängigen Teilen: Auf den ersten fast fünfhundert Seiten erzählt Christina von Braun, die ehemalige Professorin an der Humboldt Universität für Kulturwissenschaft, eine Art Biographie des Unbewussten.
Der Begriff kam im späten 18. Jahrhundert auf, als Aufklärer darunter mehr oder weniger alles fassten, was sich nicht unter Vernunft und Rationalität subsumieren ließ. Anhand zahlreicher Beispiele aus Philosophie und Literatur zeigt Christina von Braun, wie sich die Vorstellung des Unbewussten im 19. Jahrhundert wandelte, bis Sigmund Freud die Psychoanalyse entwickelte und sich rasch verschiedene Schulen bildeten.

Instrumentalisierung des Unbewussten in totalitären Staaten

Schließlich untersucht sie klug und äußerst weitreichend die Instrumentalisierung des Unbewussten in totalitären Staaten am Beispiel Russlands und Nazi-Deutschlands, um danach einen Bogen in die Gegenwart zu schlagen. Ausgehend von den gesellschaftlichen und sozialen Umbrüchen in der Anfangszeit der Psychoanalyse, als die ersten Massenmedien aufkamen und sich die Geschlechterordnung neu formierte, blickt die Autorin auf unsere Zeit, die durch digitale Medien, künstliche Intelligenz, aber auch durch Krisen, Kriege und das Erstarken autokratischer Regime, ständig neue Herausforderungen an die Psyche (und ihre Behandlung und Heilung) stellt. Allein der Handlungsbogen zeigt, dieses Buch richtet sich an besonders interessierte Leserinnen und Leser.  
Im zweiten Teil des Buchs behandelt Tilo Held die Geschichte der Psychoanalyse im Vergleich mit anderen therapeutischen Heilmethoden. Einen Schwerpunkt legt er dabei auf die Traumaforschung und zeigt an eindringlichen Beispielen, etwa aus dem Bereich der „Child Survivors“-Forschung (die sich Menschen widmet, die als Kinder den Holocaust überlebt haben), wie stark sich der kulturelle Kontext auf den therapeutischen Erfolg auswirken kann.
Der Psychiater plädiert dafür, dass die Psychoanalyse sich vor allem im Austausch mit anderen Sozialwissenschaften, wie etwa der Anthropologie, weiterentwickeln und erneuern müsse. Da der Autor ein sehr erfahrener Mann der Praxis ist, schreibt und argumentiert er ausgesprochen anschaulich und überzeugend.

Psychoanalyse als Kompass in der Krise

„Kampf ums Unbewusste“ ist ein umfangreiches, zuweilen etwas zu dicht gearbeitetes Gemeinschaftswerk zweier Koryphäen, die sich nicht nur in Geschichte, Theorie und Praxis der Psychoanalyse hervorragend auskennen, sondern denen es eine Herzensangelegenheit ist, das Potenzial dieser (u.a. wegen ihrer Dauer und der schwer messbaren Ergebnisse) viel kritisierten therapeutischen Methode für die Gegenwart und Zukunft herauszuarbeiten.
Überzeugend zeigen die beiden, dass die Psychoanalyse in einer erneuerten, zeitgemäßen Form als Instrument der „Therapie, Erkenntnis und Kulturkritik“ besonders in unserer krisengeschüttelten Zeit geeignet sein kann, psychische und intellektuelle Resilienz zu stärken. „Die Denkmuster der Psychoanalyse schulen die Skepsis“, heißt es in diesem Mammutwerk, sie kann jeden Einzelnen dazu befähigen, zwischen Bewusstem und Unbewusstem zu unterscheiden, also zu differenzieren und zu reflektieren, anstatt blind emotionalen Glaubenssätzen und Ideologien zu folgen, die ja gerade in autokratischen Systemen eine herausragende Rolle spielen.