Glaube heißt "lieb haben"
Was macht einen Glauben aus, der hilfreich ist – und wie unterscheidet er sich von einem, der das Gegenteil bewirkt? James L. Griffith meint: Wie Glaube wirkt, entscheidet sich im Mitgefühl für den Anderen.
"Ich schrie vor Freude… alles sah wie neu aus, die Leute, die Felder, das Vieh, die Bäume. Ich war wie ein neuer Mensch in einer neuen Welt."
Glaube wirkt - wie der amerikanische Religionspsychologe William James vor gut hundert Jahren in seiner in Fachkreisen berühmten Studie "Die Vielfalt religiöser Erfahrung" an eindrücklichen Zitaten gezeigt hat. Je stärker der Glaube wirkt, desto lebendiger fühlt sich der Gläubige:
"Ich lag hingestreckt auf dem Boden, schwamm in meinen Tränen, mein Herz war außer sich… In der Tiefe meiner Seele fühlte ich eine Explosion brennender Freude; ich konnte nicht sprechen; ich wollte nicht wissen, was passiert war… ich war lebendig, vollkommen lebendig… "
Erfüllt mit Leben - die initiale Erfahrung von Glaube und Wirkung lässt sich für viele auf diese Formel bringen. Wer wirklich glaubt, mag das erfahren. Aber er wird dann auch erfahren, was den amerikanischen Neurologen und Psychiater James L. Griffith zu einem Buch motiviert hat, das jetzt auf Deutsch erschienen ist: Religion hilft, Religion schadet. Wie der Glaube unsere Gesundheit beeinflusst -
James L. Griffith: "Ich begann mit dem Buch 2004. Ich war mitten in der Nacht fassungslos aufgewacht über Karl Rove und George Bush in der Kampagne zur Wiederwahl des Präsidenten gegen John Kerry. Sie benutzten christliche Schriften, mit denen ich aufgewachsen war als Wegweiser zu einem Leben in einer auf den Anderen gerichteten Liebe, Aufopferung und Mitgefühl. Sie benutzten dieselben Worte und Verse, um reinen Hass anzufachen - Hass gegenüber Schwulen, Hass gegenüber Einwanderern, Hass gegenüber Farbigen. Dabei erwachten Kindheitserinnerungen aus Süd-Mississippi, wo ich Heranwachsende beobachtete, die zur Sonntagskirche gingen, Predigten über Liebe und Mitgefühl hörten, aber dann den Rest der Woche rassistische Ideologien ausspuckten, ohne den geringsten Widerspruch darin zu empfinden."
Glaube wirkt - aber je nach innerer und äußerer Verfassung eben auch ausgesprochen ungesund. Das trifft den Gläubigen selbst, und dann diejenigen mit einem anderen Glauben. Das Spektrum reicht von Segen bis zum Fluch, vom helfenden Samariter bis zum fundamentalistischen Massenmörder. James Griffith geht es um ein Verstehen dieses extremen Potentials, das Religion im Menschen freisetzt. Ausgehend von ganz alltäglichen Fällen aus seiner Praxis als klinischer Therapeut untersucht er, wie sich die heilsame Wirkung von Religion in ihr Gegenteil verkehrt.
Emanzipation im Glauben durch Fähigkeit zum Mitgefühl
Es geht Griffith um Kontakt zu Menschen, für die der eigene Glauben schädlich geworden ist. Ein solcher Kontakt geht so gut, wie die Beteiligten sich einfühlen können auch in die zerstörerische Wirkung von Glauben. Erst die Fähigkeit zum Mitgefühl für sich und den Anderen emanzipiert den Menschen im Glauben und verwandelt dessen blinde Wirkung in eine verständnisvolle. Diese anspruchsvolle Emanzipation des Religiösen geschieht ganz alltäglich und ganz persönlich. Denn im Menschen öffnet oder verschließt sich seine Fähigkeit zu Mitgefühl und Empathie:
James L. Griffith: "Wissenschaftliche Studien belegen: unabhängig vom sozialen Kontext ist es ganz natürlich, dass wir Empathie empfinden für einen Fremden, der Schmerzen erleidet. Die in meinem Buch erwähnten „Empathie-Schalter“ sind dann soziale Kontexte, die für ein Abschalten von Empathie für die Schmerzen des Anderen sorgen. Neurosoziologen haben eine Reihe davon identifiziert: Führungsanspruch, Konkurrenz, moralisches Bewerten von Betrug, und Überlebensangst."
Je belastender die äußere und die innere Situation, desto mehr schützt der Mensch sich und seine empathischen Sensoren: Er fährt sein Mitgefühl so weit herunter, bis er sich wieder sicher fühlt. Manchmal prallen zwischen Gläubigen unterschiedlicher Religionen oder zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen Glaubenswelten und Einstellungen aufeinander, in denen kein Platz bleibt für gegenseitiges Mitgefühl. Wie sich diese anspruchsvolle Tugend wieder ‚anschalten‘ und aktivieren lässt, zeigt James Griffith, indem er engagierte Aufklärung verbindet mit engagierter Spiritualität. Der erfahrene Therapeut und Neurologe fügt wissenschaftliche Erkenntnisse über Spiegelneuronen, Empathie-Schalter und Evolution in eine sensible ethische Einstellung:
James L. Griffith: "Religion kann eine Reihe von Umständen schaffen, die Empathie ausschalten, das gilt besonders für ein moralisches Verurteilen, wenn Verhaltensregeln verletzt werden. Am wichtigsten ist das Ausschalten von Empathie, wenn Religion als Identitätsmerkmal die Innen-Gruppe gegenüber einer Außen-Gruppe definiert. Es gibt keine Empathie für Mitglieder von Außen-Gruppen. Indem Religion zur Identität wird, kreiert sie ein Gefühl von Trennung: „Ich weiß, wer ich als Christ bin, und du bist keiner.“ Wenn Religion so auf eine soziale Identität reduziert wird, besteht große Gefahr, dass sie Schaden anrichtet in der Welt. Daher kann Religion dazu dienen, zu verbinden und zu trennen."
Zusammenspiel aus sozialer Organisation und individueller Reife
Der Mensch braucht spirituelle Erfahrung, damit Empathie und Mitgefühl nicht reserviert werden für die eigene Gemeinschaft und abgeschaltet gegenüber allen Anderen. Dieses Zusammenspiel aus sozialer Organisation und individueller Reife ist so anspruchsvoll wie existentiell wichtig für die Beziehung zwischen Individuum und Anderem. Ohne spirituelle Integration in das persönliche Erleben erstarrt das Religiöse in eine ausgrenzende Gruppenmentalität - mit entsprechend gefährlichen Folgen für Anders- oder gar Ungläubige.
James L. Griffith: "Es geht nicht darum, persönliche Spiritualität für gut und religiöse Gruppen für schlecht zu erklären. Die meisten religiösen Menschen nehmen teil an religiösen Gruppen, um persönliche Spiritualität zu finden. Sie gehen in die Kirche um sowohl persönliche Spiritualität als auch das ganze Spektrum Hoffnung-bildender Wege und andere emotionale Unterstützung zu finden, die Gruppen bieten. Daher wirken für die meisten religiösen Menschen persönliche Spiritualität und gruppenbasierte soziobiologische Religion zusammen."
Eine der ältesten Bedeutungen des Wortes Glaube ist "lieb haben". Das geht nicht leicht in einer komplexen Welt. Es stellt hohe Ansprüche an die persönliche Einstellung. Wie Glaube wirkt, das entscheidet sich im Gefühl für den Anderen - ein mit Gefühl erfüllter Glaube ist offen für alles Lebendige:
James L. Griffith: "Deswegen schätze ich die Parabel vom barmherzigen Samariter als die wichtigste Lehre des Neuen Testaments. In ihr empfiehlt Jesus zwei Einstellungen von lebendiger Bedeutung: Erstens weitet er die Größe der Innen-Gruppe aus auf alle menschlichen Wesen. Zweitens erklärt er das Befolgen dieses Glaubens zum Identitätsmerkmal jeder weiteren Innen-Gruppe. Wenn man diesen Glauben teilt, ist man einer seiner Nachfolger. "