"Als ich vom Tod meines Bruders erfuhr, empfand ich nichts, weder Traurigkeit noch Verzweiflung noch Erleichterung noch Freude. Ich nahm die Nachricht auf wie den Wetterbericht oder wie man jemandem zuhört, der vom Einkaufen im Supermarkt erzählt."
            Édouard Louis: Der Absturz
            
              
                
  
              
              
              
                 
              
              
                
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        Tod ohne Trauer
06:06 Minuten

Édouard Louis
Übersetzt von Sonja Fink
Der AbsturzAufbau Verlage, Berlin 2025222 Seiten
24,00 Euro
Édouard Louis hatte den Kontakt zu seinem verhassten Bruder schon vor langer Zeit abgebrochen. Doch nach dessen Tod will er seine Selbstzerstörung nachvollziehen. So setzt er mit "Der Absturz" seine radikalautobiografische Familienforschung fort.
            
            
            
          So beginnt Édouard Louis die Auseinandersetzung mit dem knapp zehn Jahre älteren Bruder nach dessen Tod. Die Eingangssequenz wiederholt er gegen Ende wortwörtlich. Da kehrt er vom Besuch bei der Mutter zurück, die ihn gebeten hatte, sie zu unterstützen. Noch im Zug beginnt er mit dem Schreiben. 
              Die Reise von Paris zur Mutter und zurück bildet die Rahmenhandlung von "Der Absturz". Doch vor allem geht es um die Erinnerungen an den ungeliebten Bruder, zu dem Louis zehn Jahre zuvor jeglichen Kontakt abgebrochen hatte: "Ich habe meinen Bruder oft gehasst, aber ich muss sein Leben verstehen."
              Altbekanntes Personal
Das Personal ist aus den früheren Büchern Édouard Louis' bekannt, vor allem aus "Das Ende von Eddy". Da berichtete er von seinem Werdegang als junger Homosexueller, der sich dem subproletarischen, ländlichen Milieu seiner Herkunft entfremden musste, um sich in einen Pariser Intellektuellen zu verwandeln. 
              Bücher über den trinkenden, gewalttätigen Vater, die duldende, unzuverlässige Mutter folgten. Auch der alkoholsüchtige, zu Gewaltausbrüchen, Rassismus und Homophobie neigende ältere Bruder hatte bereits mehrfach seine Auftritte. Tatsächlich ist er, der in "Der Absturz" namenlos bleibt, nur ein Halbbruder, dessen Vater sich um seinen Sohn nie kümmerte. 
              Das Leben als Kampf um Aufmerksamkeit, um Liebe – so legt es eine ehemalige Geliebte des Bruders am Telefon nahe: "Er trank und wurde aggressiv, weil er glaubte, er hätte mehr Liebe verdient, als er bekam. Seine Freundlichkeit und seine Gewalttätigkeit, beides lässt sich durch sein krankhaftes Verhältnis zur Liebe erklären."
              Keine einfachen Antworten
Édouard Louis bestreitet seine literarische Existenz ausschließlich mit radikalautobiographischer Familienforschung, die bei ihm zugleich Gesellschafts- und Klassenanalyse ist. In "Der Absturz" bedient er sich darüber hinaus bei der Psychoanalyse, vor allem bei Ludwig Binswanger, dem Begründer der von Heidegger inspirierten Daseinsanalyse. 
              Louis will wissen, wie einer so werden kann wie dieser Bruder, der schon mit Zwanzig nicht mehr zu retten war, der keine Arbeit und keine Liebschaft durchhielt und sich stattdessen systematisch zu Tode soff. 
              Dabei vermeidet er einfache Antworten. Er gibt sich weder damit zufrieden, verquere Männlichkeit, Armut, Kriminalität und Alkohol für schichtspezifische Phänomene zu halten, noch mit psychologischen Theoremen, die auf frühkindliche Verwundungen und Vaterlosigkeit verweisen. All das stimmt, aber es reicht nicht aus.
              Die fragwürdige Institution der Familie
"Was, wenn mein Bruder nicht aufgrund von sozialen Determinationen mit Achtunddreißig gestorben ist, sondern weil die sozialen Determinationen in seinem Fall versagt haben, weil sie ihre Funktion nicht erfüllt haben?"
              Diese Funktion bestünde, so Louis, darin, Wünsche und Sehnsüchte auf ein realistisches Maß zu begrenzen. Der Bruder aber habe sich nach unermesslichem Glück, Ruhm und Ehre gesehnt, ohne dem auch nur ansatzweise zu entsprechen. Auch das ist nur eine Vermutung. 
              Unaufgelöst bleiben auch offensichtliche Widersprüche. Das gilt nicht zuletzt für die mehr als fragliche Institution der Familie, die im Fall des Bruders vor allem dazu diente, ihn zu demütigen und ihm nichts zuzutrauen.
              "So ist Familie. Erst jagen sie dich davon, dann werfen sie dir vor, du wärst weggelaufen. (…) Ich war am Ende meiner Kräfte. Ich empfand eine Erschöpfung, wie man sie nur in Gegenwart der Familie empfindet, im Umgang mit Eltern und Geschwistern."
              Distanz und Betroffenheit
Gleichwohl schwingt sich der Bruder, der mit Achtzehn von zu Hause weglief, zum Verteidiger der Familienehre auf, als er erfährt, dass Édouard schwul ist. Da hätte er ihn am liebsten umgebracht, um die Familienehre zu verteidigen. 
              Édouard Louis erzählt all das in vielen einzelnen, furchtbaren Episoden, eine schlimmer als die andere, bleibt dabei aber betont sachlich, essayistisch, analytisch. 
              Er hat sich von dieser Familie schon so weit entfernt, dass er sie als Forschungsobjekt betrachten kann und ist doch qua Herkunft involviert. Als der Bruder ihm einmal vorhielt, er beute die Familie aus und mache sie in seinen Büchern schlecht, entgegnete er: "Wenn du mich daran hinderst, über dich zu schreiben, hinderst du mich daran, über mich zu schreiben. Und dazu hast du kein Recht."
              Solche Sätze stehen da, wie in Marmor gemeißelt. Aber es sind nur flüchtige Vermutungen und niemals endgültige Antworten. Man darf sicher sein, dass "Der Absturz" nicht das letzte Buch von Louis in eigener Familiensache gewesen sein wird. Aber es ist eines seiner besten.
              





