Revolutionsaufforderung

Protestieren Sie gegen niedrige Preise!

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Supermarktregal mit Gemüse
Leckeres Gemüse: Dass etwas auch zu billig sein kann, kommt selten in den Blick, meint Martin Ahrends. © Unsplash / nrd
Ein Kommentar von Martin Ahrends · 10.07.2019
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Viele Revolutionen sind ins Rollen gekommen, weil Nahrungsmittel zu teuer waren. Neu wäre eine Revolution, an deren Ursprung Übersättigung und zu billige Produkte stünden. Genau das fordert Publizist Martin Ahrends.
Es scheint ein offenbarer Widersinn, dass man über seine Verhältnisse lebt, indem man zu wenig bezahlt. Wir können unsere Lebensmittel zu Preisen erwerben, die weltweit einmalig sind, so niedrig, dass jeder fremdländische Gast ins Staunen gerät. Wir staunen nicht mehr, wir haben uns ans wohlfeile Futter und die Billigflieger gewöhnt. Und wissen doch insgeheim, dass es so nicht funktionieren kann, dass wir mit jedem Einkauf und jedem Billigflug etwas geschenkt bekommen oder irgendwo, irgendwie eine gut verschleierte Schuldenlast anhäufen. Dass unser billiges Leben nicht zukunftstauglich ist. Mit unserem alltäglichen Konsum bürden wir den Enkeln eine Erblast auf, die sie schwerlich abtragen können, weil es hier nicht um Geld geht, sondern um irreversible Schäden.

Keiner beschwert sich über billige Lebensmittel

Jedermann beschwert sich, wenn etwas zu teuer ist. Das scheint für uns Verbraucher die einzig mögliche Perspektive auf Preise zu sein. Dass etwas auch zu billig sein kann, kommt selten in den Blick. In der DDR waren unsere Mieten zu billig, um damit die Häuser instand zu halten. Soweit ich mich entsinne, hat sich damals niemand über die billigen Mieten beschwert. Über die maroden Wohnungen durchaus.
Auch ich hätte mich nicht darüber beschweren wollen, dass ich für meine erste Studentenbude im Prenzlauer Berg 20 Ostmark pro Monat zu zahlen hatte und dass ich damals mit fünf Ostmark für Lebensmittel über die Woche kam. Subventionen haben den Ruf, Stabilität zu erzeugen. Doch die DDR ist auch an ihren Preisen für die essenziellen Lebensgrundlagen gescheitert, die aus politischem Kalkül viel zu niedrig waren.
Heute hätte ich gewiss keinen Grund, mich über zu billige Mieten zu beschweren, über zu billige Lebensmittel durchaus. Die Agrarsubventionen der EU fördern die industrielle Landwirtschaft und richten damit nicht nur ökologischen Schaden an. Doch bei wem sollte ich mich über zu billige Lebensmittel beschweren, wenn nicht bei mir selbst, dem Verbraucher, der sie kauft?

Ökologische Schäden sind nicht eingepreist

Wenn scharenweise einheimische Milchproduzenten pleite gehen und unsere Milchprodukte eines Tages – der Himmel bewahre uns – aus dem Reich der Mitte angeschippert kommen, dann ist das ökonomisch zugleich sinnvoll und unsinnig, ein Widerspruch in sich, den unser ökonomisches System nicht aufzulösen vermag, weil der ökologische Schaden nicht eingepreist ist.
Wir wissen oder ahnen doch, dass wir uns immens verschulden, wenn wir unseren Konsum weiter so wohlfeil bestreiten. Doch in keiner unserer Rechnungen tauchen diese Schulden auf. Ein Systemfehler macht uns zu Schuldnern unserer Kinder, ohne dass wir davon etwas bemerken.

Ein Aufstand gegen zu niedrige Preise

Zu hohe Lebensmittelpreise führen oft zu Aufruhr und Rebellion. Ich hab von keiner Revolution gehört, die von zu niedrigen Preisen ausgegangen wäre. Aber genau so ein massenhaftes Aufbegehren gegen die verborgenen Kosten unseres Wohllebens täte not. Etwas, womit in unsrem ökonomischen System niemand rechnet. Der Strich durch eine Rechnung, die auf Kosten unserer Kinder und Enkel geht. Wer außer uns Verbrauchern kann diesen Strich freiwillig tun? Die Wirtschaft benutzt und bedient uns, als hätten wir kein Gewissen. Die Politik sorgt vor allem für Systemstabilität. Eine Revolte derer, denen es zu gut geht – das hat es noch nie gegeben in der Weltgeschichte. Jetzt wäre die Zeit dafür reif.

Martin Ahrends, geboren 1951 in Berlin. Studium der Musik, Philosophie und Theaterregie. Anfang der 80er-Jahre politisch motiviertes Arbeitsverbot in der DDR. 1984 Ausreise aus der DDR. Redakteur bei der Wochenzeitung "Die Zeit" und seit 1996 freier Autor und Publizist.


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