Revolutionen, die keine sind

Moderation: Matthias Hanselmann |
Der Naturwissenschaftler an der Universität von Konstanz, Ernst Peter Fischer, hat die Selbstvermarktung von Wissenschaftlern kritisiert. Gerade im Bereich der modernen Genforschung sei oft von "Revolution" die Rede. Meist halte der Begriff einer genaueren Nachfrage nicht stand.
Hanselmann: Was man von der Naturwissenschaft wissen sollte, das beschrieb uns Ernst Peter Fischer in seinem Buch "Die andere Bildung". Und dieses Buch war ein Bestseller. Zentrale These: Wenn wir keine Ahnung haben von den Naturwissenschaften, dann sind wir echten und falschen Experten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, weil wir nichts wirklich beurteilen können. Ernst Peter Fischer ist selbst Naturwissenschaftler und Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität von Konstanz und Fischer hat sich immer dafür eingesetzt, dass die Naturwissenschaften mehr beachtet werden, mehr Aufmerksamkeit bekommen. Jetzt schimpft er darauf, dass genau das passiert - oder haben wir etwas falsch verstanden? Das können wir ihn gleich selbst fragen. Guten Tag, Herr Fischer!

Fischer: Guten Tag, Herr Hanselmann!

Hanselmann: Sie schreiben in einem Artikel in der Welt, Wissenschaftler mit "Revolutionen" kreisen doch oft nur um sich selbst. Was meinen Sie damit und von welchen Revolutionen sprechen Sie?

Fischer: Also ich meine zum Beispiel die dauernde Ankündigung, dass die moderne Genforschung eine Revolution darstellt. Sie können kaum einen Kongress über Biotechnologie oder Biomedizin hören, ohne dass am Anfang jemand von einem großen Paradigmawechsel spricht, von einer großen Revolution. Und wenn Sie dann fragen, was gemeint ist, dann kommt meist keine Antwort. Es ist keine Revolution in der Molekularbiologie. Molekularbiologie oder Biomedizin besteht darin, dass man versucht, von Molekülen aus Gesundheit oder Krankheit zu verstehen. Und wenn Sie jetzt stattdessen, statt also der alten Proteine, die neue DNA nehmen, dann machen Sie dasselbe wie vorher nur mit größerem Aufwand. Und Sie bekommen ja auch dieselbe Folge, nämlich am Schluss, wenn man dann alles weiß, was man vorher wissen wollte, dann sagt man: Jetzt fangen wir allmählich an zu verstehen, was wir wissen wollten. Ich finde, es werden immer ununterbrochen Revolutionen angekündigt, dabei dreht sich die Wissenschaft vielfach um sich selbst, in dem Sinne, dass sie kaum auf Fragen eingeht, die die Öffentlichkeit interessiert, und sich mehr mit den Fragen beschäftigt, die die Wissenschaft sich selbst gestellt hat, das heißt in ihren Disziplinen. Und da dreht und kreist dann alles, und das finde ich ein bisschen albern. Man sollte mit dem Begriff der Revolution vorsichtig sein. Man sollte auch mit dem Begriff von großen Ankündigungen vorsichtig sein. Trotzdem, unabhängig davon, bin ich der Meinung, dass die Wissenschaft mehr öffentlichkeitswirksame Auftritte braucht, aber natürlich nicht, indem man die Revolution zu Tode redet. Ich kann das Wort bald nicht mehr hören. Also ich habe gestern noch einen Artikel gelesen von einem großen französischen Biochemiker. Ich schätze den sehr, Jean-Pierre Changeux, der Artikel heißt "Die Revolution in den Neurowissenschaften". Natürlich gibt es Neuerungen in den Neurowissenschaften, es gibt bessere bildgebende Verfahren, es gibt bessere Methoden, dem Hirn beim Denken zuzuschauen. Aber zum Schluss heißt es dann, jetzt wissen wir allmählich, dass wir immer noch nicht wissen, was das mit dem Bewusstsein und mit dem Denken auf sich hat, aber es könnte sein, dass wir es in 50 Jahren vielleicht wissen. Das ist doch keine Revolution. Das ist einfach nur eine Bankrott-Erklärung. Und da sollte man einfach vorsichtiger sein. Es gibt so viel Schönes, so viel Wunderbares, so viel Spannendes in der Wissenschaft. Man muss da nicht ununterbrochen Revolutionen ankündigen, dabei wird einem ja nur schwindlig.

Hanselmann: Aber, Herr Fischer, hat es in der Geschichte der Naturwissenschaften überhaupt keine Revolutionen gegeben? Waren das alles langsame Entwicklungsprozesse, die sich am Ende dann nur für den Laien als revolutionär dargestellt haben, nehmen wir ruhig mal die Relativitätstheorie?

Fischer: Die Relativitätstheorie hat Einstein selbst gar nicht als Revolution bezeichnet. Und warum sollen wir das tun. Die Relativitätstheorie vollendet einen langen Prozess des Nachdenkens über Raum und Zeit. Was Einstein zum Beispiel als revolutionär bezeichnet hat, ist sein Verständnis von Licht. Aber jetzt sage ich Ihnen, worin die Revolution besteht: Also Einstein hat ja vor 100 Jahren erkannt, dass Licht auch aus Teilchen besteht. Man hatte die 100 Jahre vor Einstein immer gedacht, man wüsste, was Licht ist, nämlich eine Welle. Jetzt sagt Einstein, sie ist eine Welle und ein Teilchen. Und daraus schließen die Leute, dass Einstein die duale Natur des Lichtes erkannt hat. Was Einstein erkannt hat, ist, dass wir nicht erkennen können, was Licht ist. Uns bleibt verborgen, was Licht ist. Licht ist ein Geheimnis. Also wenn es eine Revolution in der Naturwissenschaft gibt durch Einstein, dann ist es die Revolution, dass es Fragen gibt, die die Naturwissenschaft nicht beantworten kann. Es hat aber auch, wenn Sie so wollen, positive Revolutionen in der Naturwissenschaft gegeben. Und eine mit Sicherheit vor 400 Jahren, nämlich als man überhaupt die Idee hatte, dass man mit Hilfe von Wissenschaft, also mit rationalem Experimentieren und mit Fragen an die Natur die Lebensbedingungen der Menschen verbessern kann. Wenn Sie sich erinnern, das war vor 500 oder 600 Jahren anders. Da hat man gebetet, dass es einem besser geht, und man hatte die Hoffnung, dass man im Jenseits eventuell keine Kopfschmerzen hat. Und die Idee der Wissenschaft ist, dass man auch im Diesseits keine Kopfschmerzen haben muss, dass man auch im Diesseits sein Fleisch haltbarer gestalten kann. Das war eine Revolution. Aber diese Revolution trägt ja, man kann nicht jeden Tag diese Revolution feiern. Was man tun kann, ist, man kann Fortschritte machen, man kann Verbesserungen machen, man kann systematisch arbeiten. Und man kann einfach natürlich insgesamt immer neuere Medikamente oder neuere Wirkstoffe oder neuere Bremsbelege oder so entwickeln, aber das sind doch keine Revolutionen!

Hanselmann: Also Sie beklagen, dass die Dinge einfach zu hoch gehängt werden. Vielleicht noch einmal zur Kunst der Vermarktung. Es wird ja immer beklagt, es gibt dieses berühmte Wort von den Wissenschaftlern in ihren Elfenbeintürmen, also völlig abgehoben und abgeschottet vom Normalbürger agieren die dort. Da kann doch Publicity und auch Vermarktung doch wirklich nicht schaden, oder?

Fischer: Also ich finde das mit dem Elfenbeinturm merkwürdig. Ich glaube gar nicht, dass die Wissenschaftler im Elfenbeinturm sind. Im Elfenbeinturm sind vielleicht die Redakteure, die noch nicht gemerkt haben, dass die Wissenschaftler aus dem Elfenbeinturm raus sind. Die stehen doch ununterbrochen auf der Straße. Die stehen ununterbrochen den Politikern vor der Tür. Die schreiben Manifeste, die stehen in der Zeitung. Nur die Talkshows lassen sie nicht zu. Also wir haben sozusagen immer das Gefühl, dass die Wissenschaftler nichts sagen, weil sie auch rhetorisch vielleicht etwas unbeholfen sind. Aber dass die Wissenschaftler heute noch im Elfenbeinturm sind, halte ich für merkwürdig.

Hanselmann: Warum werden die nicht zugelassen in Talkshows? Ich meine, man kann an Ihnen doch deutlich hören, dass da rhetorisch irgendwie an nichts zu wünschen übrig bleibt.

Fischer: Ich meine, Sie können ja mal überlegen, wann Sie zum letzten Mal einen Wissenschaftler in der Talkshow gehört haben, außer wenn irgendwo ein Unfall war. Also zum Beispiel haben wir in den letzten Jahren das Genomprojekt abgeschlossen. Wir haben mit dem Hubble-Teleskop ganz neue Weiten des Universums erkundet. Wir haben auch ganz neue Einsichten in den Mechanismus der Evolution bekommen. Und wann war das bitte schön in einer Haupttalkshow? Nirgendwo! Also wir haben zum 423. Mal diskutiert, ob CDU für die Zukunft gerüstet ist, ob die Steuergesetzgebung irgendetwas Sinnvolles ist. Da hört man dann billige Polemik von überflüssig agierenden Politkern, statt dass wir einmal sinnvoll fragen, ob wir nach dem Hubble-Teleskop jetzt den Kosmos besser verstehen, ob wir nach den neuen Erkenntnissen der Genomforschung die Evolution besser verstehen. Ich glaube, das interessiert Menschen mehr und das ist etwas nachhaltiger, langfristiger. Und das wäre vielleicht - wenn Sie so wollen - eine Revolution in der Publizierung von Wissenschaft, dass sie mal in so einer Talkshow sind, zum Beispiel sonntagsabends bei Sabine Christiansen. Aber ich glaube nicht, dass die Redaktion überhaupt weiß, dass es Wissenschaft gibt.

Hanselmann: Wann waren Sie denn das letzte Mal in einer Talkshow?

Fischer: Das weiß ich nicht mehr so genau. Also das war, nachdem ich "Die andere Bildung" geschrieben habe. Da hatte man plötzlich das Gefühl, man müsste auch darauf eingehen. Und dann darf man ab und zu mal etwas sagen. Aber sobald man über Wissenschaft etwas sagt, tönt einem von links jemand entgegen: Ach das verstehen wir nicht! Ich meine, das gehört immer noch zum Grundsatzmodell, wenn Sie versuchen, einen wissenschaftlichen Gedanken zu formulieren, dann tönt Ihnen irgendein Redakteur entgegen: Ach das verstehen wir nicht! Ich meine, ich finde das so merkwürdig. Wir verstehen alle sofort, was Hartz IV bedeutet, was der Vertrag von Maastricht heißt, was das Schengener Abkommen ist, was die passive Abseitsregel beim Fußball bedeutet, das verstehen wir alle. Aber wenn Sie irgendetwas über Raum und Zeit erklären wollen, dann sagen die Leute sofort: Das verstehen wir nicht!

Hanselmann: Aber Herr Fischer, apropos ich muss Ihnen da ein bisschen widersprechen. Die großen Fernsehsender haben alle ihre Wissenschaftsshow. Das wird schön populär aufgearbeitet. Wir befinden uns im Einsteinjahr. Wir konnten uns ja in diesem Jahr kaum retten vor Einstein und Erklärungen und Erklärungsversuchen.

Fischer: Gut dann frage ich Sie, wissen Sie jetzt am Ende des Einsteinjahres mehr über die Relativitätstheorie als vorher?

Hanselmann: Ich weiß mehr über Einstein. Ich habe zwei Bücher über ihn gelesen, und fand das sehr interessant.

Fischer: Das ist ja gut, dass Sie immerhin das wissen. Ich meine, es ist ja nur, dass wir einfach mal sehen, dass man bei der Naturwissenschaft irgendein Verständnis haben muss, das manchmal dem gesunden Menschenverstand widerspricht. Und da muss man eventuell mal eine Gedankenführung einbauen. Aber in diesem Schnellverfahren der Angst vor dem Wegzappen der Zuschauer darf man das nicht machen. Ich meine, das ist ja auch in den Polittalkshows, sobald man wirklich erklären will, was die Steuergesetzgebung wohl bedeutet, wiegelt der Moderator ja ab und muss irgendetwas Polemisches wieder sagen. Ich denke, da hat Wissenschaft eine Präsentationsproblematik. Aber die kann man nicht dadurch verändern, dass im Hintergrund immer jemand schreit: Ich habe jetzt gerade eine Revolution in meinem Fach gemacht! Dabei wird einem wirklich nur schwindlig.

Hanselmann: Haben Sie denn, also finden Sie solche Kampagnen wie das Einsteinjahr überhaupt, halten Sie es für sinnvoll, das zu tun?

Fischer: Also ich halte es für sinnvoll, dass man Wissenschaft versucht zu propagieren, dass man eine Institution wie "Wissenschaft im Dialog" ins Leben gerufen hat. Aber ich finde nur, dass zum Beispiel der Dialog oder das Gespräch nicht stattfindet. Man macht eine Wissenschaftsshow, man präsentiert das, aber man macht sich keine wirklichen Gedanken, was man da eigentlich zum Schluss verstehen will. Ich glaube nämlich zum Beispiel nicht, aber ich will jetzt niemandem zu nahe treten, dass Sie in einem einstündigen Vortrag das mit dem Kopf verstehen können, was Albert Einstein oder was Atomphysiker in Jahrzehnten entwickelt haben. Sie können aber vielleicht ein Gefühl dafür bekommen. Und ich denke, dass die Art, wie man Wissenschaft vermitteln kann, ist sozusagen, dass man den Menschen ein Gefühl gibt, was das bedeutet, über die Atome informiert zu sein, ein Gefühl dafür hat, in welcher geometrischen Konstruktion eines Kosmos wir wohnen. Dann müsste man aber andere Erklärungsmechanismen anbieten. Dann müsste man auch gar nicht erst versuchen, das, was Einstein gemacht hat, einfacher darzustellen, sondern man müsste versuchen, es anders darzustellen. Und diese Form der anderen Darstellung wird meiner Ansicht nach viel zu wenig geübt. Wenn Sie nämlich Einstein immer einfacher darstellen, dann verschwindet ja zum Schluss, was er gemacht hat. Also ich nehme mal als Beispiel, wenn Sie jemandem, der nicht Skilaufen kann, einen Parallelschwung erklären wollen, und erklären das immer einfacher, dann ist es zum Schluss ein Stemmbogen. Aber das wollten Sie ja gar nicht erklären.

Hanselmann: Vielen Dank, Ernst Peter Fischer, Mathematiker, Physiker, Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Uni Konstanz und Bestsellerautor zum Thema sogenannte Revolutionen in der Wissenschaft. Danke, Herr Fischer, und schönen Tag noch!

Fischer: Danke, Herr Hanselmann, schönen Tag für Sie auch!