Revolutionen, die keine sein wollten

01.07.2010
Lateinamerika war lange Zeit ein Kontinent der politischen Instabilität. Seine Befreiungskämpfe gegen die Kolonialherren Spanien und Portugal stellt der Berliner Historiker Stefan Rinke dar. Viele Mythen und Legenden werden kritisch überprüft.
Revolutionen in Lateinamerika: Dieser Titel ruft ein Begriffspaar auf, das in unserer geschichtlichen Wahrnehmung schon fast synonym geworden ist. Der amerikanische Südkontinent ist ein Ort der politischen Instabilität, der Umstürze, Revolutionen. Im 20. Jahrhundert kämpften in vielen Ländern erst Konservative gegen Liberale, später Sozialisten gegen die alten Eliten blutig um die Macht, oft jahrzehntelang. Die linken Experimente in Kuba, Chile und Nicaragua, die Aufstände in Salvador, Mexiko oder Guatemala beobachtete die Welt mit Hoffnung oder Furcht.

Der Berliner Professor für Lateinamerika-Geschichte, Stefan Rinke, untersucht in seinem sehr detailreichen Buch die Revolutionen, die die Vorläufer all dieser Auseinandersetzungen waren, nämlich die Kriege um die Unabhängigkeit von der spanischen bzw. portugiesischen Kolonialherrschaft von 1760 bis 1830. Viele lateinamerikanische Staaten (Argentinien, Bolivien, Chile, Ecuador, El Salvador, Kolumbien, Mexiko, Paraguay, Uruguay und Venezuela) feiern jetzt oder demnächst den 200. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit; und deren Gründungsmythen und die Heldenlegenden, die sich um "Libertadores", Befreier wie Simon Bolívar oder General San Martín ranken, bedürfen durchaus genauer historischer Überprüfung.

Die Ereignisse von damals, so Rinkes zentrale These, waren eher Machtkämpfe verschiedener Interessengruppen, denn Revolutionen im Sinne einer sozialen Umwälzung. Die einzige "wirkliche" Revolution war demzufolge der Sklavenaufstand in Haiti, das damals als Saint-Domingue unter französischer Herrschaft stand. Hier gelang es tatsächlich einer unterprivilegierten Schicht, den schwarzen Sklaven, die Fesseln abzustreifen – das vor allem deshalb, weil im Mutterland selbst revolutionäres Chaos herrschte.

Rinke gelingt es hervorragend, die politischen Ereignisse in Europa – das heißt vor allem: die Napoleonischen Kriege – in seine Darstellung der lateinamerikanischen Dramen einzubeziehen. Vor diesem Hintergrund entfaltet das Buch ein hochinteressantes Bild von einer Reihe von Revolutionen, die gar keine sein wollten.

Nicht die Französische Revolution mit ihrer "Terreur" und schon gar nicht die haitianische, sondern die amerikanische, die Unabhängigkeit der USA (1787) wollte man sich zum Vorbild nehmen. So kämpften die kreolischen Eliten Lateinamerikas, die mächtige Oligarchie der Großgrundbesitzer und die gebildeten Stadtbewohner, um die Macht auf dem Kontinent, oft auch gegeneinander. Dabei verteidigten sie ihre eigenen Interessen gegenüber dem Großteil der Bevölkerung, die indianisch oder afrikanisch war und von solchen "Revolutionen" wenig für sich zu erhoffen hatte – es sei denn, sie ging strategische Bündnisse ein. So kam es, dass die Indigenen – vor allem in Peru – auf Seiten der Kolonialherren gegen die "Befreier" kämpften. "Wer einer Revolution dient, pflügt das Meer", schrieb resigniert Simon Bolívar kurz vor seinem Tod 1830.

Für das Verständnis des Lateinamerikas von heute in seiner ethnischen und sozialen Zerrissenheit ist dieses Buch eine äußerst wertvolle Hilfe.

Besprochen von Katharina Döbler

Stefan Rinke, Revolutionen in Lateinamerika. Wege in die Unabhängigkeit 1760-1830 Verlag C.H. Beck, München 2010, 392 Seiten, 29,95 Euro