Revolutionärin Alexandra Kollontai

Solidarität braucht Liebe

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Ein Porträt von Alexandra Kollontai in jungen Jahren.
Alexandra Kollontai war eine streitbare Politikerin, ihre Ideen zu Solidarität aber sind aktueller denn je. © imago / UIG / World History Archive
Von Constantin Hühn · 24.04.2022
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Revolutionärin, Frauenrechtlerin, Vordenkerin neuer Liebes- und Lebensformen – aber auch treue Stalinistin. Alexandra Kollontais Leben ist facettenreich und voller Widersprüche. Vor 150 Jahren wurde sie geboren. Wie aktuell ist ihr Denken heute?
„Es zog mich immer irgendwohin in die Zukunft. Ich beschied mich weder in der Arbeit noch in der Liebe. Alles das war mir zu wenig. Das möchte ich vermitteln. Ohne diese Ruhelosigkeit gibt es keinen Fortschritt.“
So schreibt Alexandra Kollontai einmal in ihr Tagebuch. Ihre Lebenserinnerungen erscheinen später unter dem Titel „Ich habe viele Leben gelebt“ – und in der Tat fällt es schwer, das Leben und Schaffen dieser Frau auf nur einen Nenner zu bringen. Denn sie war vieles zugleich: Revolutionärin, Frauenrechtlerin, Friedensaktivistin, Vordenkerin neuer Lebens- und Liebesformen – aber auch sowjetische Ministerin und Diplomatin, die lange treu zu Stalin hielt und manch heute verstörende Ansicht vertrat.

Von der Bürgerstochter zur Revolutionärin

Katharina Volk hat zum 150. Geburtstag Kollontais eine kleine Biografie und Textsammlung herausgegeben. Sie charakterisiert Kollontai folgendermaßen: „Alexandra Kollontai war eine mutige Frau, die ihr Leben ja für die Revolution einsetzte und sich niemals scheute, auch für andere einzutreten und für sich stets als Aufgabe sah, auch die sozialen Verhältnisse mit den und im Sinne der Arbeiter und Arbeiterinnen, und vor allem auch der Frauen zu verbessern.“
Eine Berufung, die ihr nicht gerade in die Wiege gelegt ist: Geboren wird Kollontai am 1. April 1872 in wohlhabende Verhältnisse. Ihr Vater ist ukrainischer Großgrundbesitzer und zaristischer General, ihre Mutter Tochter eines vermögenden finnischen Bauern. Statt eine Schule zu besuchen, bekommt Alexandra Kollontai Privatunterricht von einer Hauslehrerin. Doch gerade die ist es, die sie für eine Kritik der sozialen Verhältnisse sensibilisiert.
Ein Foto von Alexandra Kollontai an ihrem Schreibtisch, aus dem Jahr 1951
Fürsorglichkeit kann weit über die Familiengrenzen hinausreichen, war Alexandra Kollontai überzeugt.© imago / ITAR TASS
Statt einer ‚guten Partie‘, wie von den Eltern gewünscht, heiratet sie später ihren Cousin, einen mittellosen Ingenieur. Doch trotz der Liebesheirat ist es ihr in der Ehe bald zu eng, wie sie schreibt: „Das ‚glückliche Dasein‘ einer Hausfrau und Gattin wurde mir zum ‚Käfig‘.“ Stattdessen studiert sie Nationalökonomie in Zürich – in Russland ist das Frauen noch verboten – und engagiert sich daraufhin in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, aus der später die Bolschewiki hervorgehen.

Soziale Frage mit Geschlechterfrage verknüpft

Nach der gescheiterten Revolution 1905 beginnt Kollontai immer stärker die soziale Frage mit der Geschlechterfrage zu verknüpfen: „[Z]u jener Zeit fiel mir zum ersten Male auf, wie wenig sich unsere Partei mit dem Schicksal der Frauen der Arbeiterklasse beschäftigte und wie gering ihr Interesse an der Befreiung der Frau war.“
Kollontai vernetzt sich mit sozialistischen Frauen in anderen europäischen Ländern – unter anderem mit Clara Zetkin – und baut eine eigene Frauenabteilung innerhalb der Russischen Partei auf. Um der drohenden Verhaftung in Russland zu entgehen, emigriert sie 1907 mit ihrem Sohn nach Berlin und engagiert sich in der deutschen SPD. Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, ist sie jedoch bestürzt vom nationalistischen Eifer ihrer deutschen Genossen: „In den Reihen der Partei herrscht der reinste Wahnsinn. Alle sind ‚Patrioten‘ geworden, bereit, dem Kaiser ihr ‚Vivat!‘ zuzurufen.“

Als Ministerin kämpft sie für die Gleichstellung

In den kommenden Jahren agitiert Kollontai in ganz Europa und den USA gegen den Krieg. Als sie nach der Oktoberrevolution 1917 endlich nach Russland zurückkehren darf, wird sie Volkskommissarin für Soziale Fürsorge – und damit die erste Frau in einem Ministeramt überhaupt. Später wird sie die Sowjetunion als weltweit erste weibliche Diplomatin vertreten.

Ohne die Gleichberechtigung der Frau gibt es keinen Kommunismus.

Alexandra Kollontai im Jahr 1920

In den Monaten als Kommissarin errichtet sie Volkskantinen und Kinderheime, setzt sich für Gleichberechtigung in der Ehe ein und etabliert einen ausgedehnten Mutterschutz sowie eine Arbeitspflicht auch für Frauen. Denn ihr ist klar, dass eine rechtliche Gleichstellung allein nicht reicht: Erst durch ökonomische Unabhängigkeit können die Frauen frei sein.
Hier Kollontai in einer Ansprache „An die Arbeiter“ von 1920: „Genossen-Arbeiterinnen, lange Jahrhunderte war die Frau erniedrigt und rechtlos. Der Mann hat die Frau ernährt, dafür musste sie als seine unrechtmäßige häusliche Sklavin leben. Die Oktoberrevolution hat die Frau aus ihrer Gefangenschaft befreit. Jetzt haben Bäuerin und Bauer, Arbeiterin und Arbeiter dieselben Rechte. Es gibt Volkskommissarinnen. Aber das Leben hat die Frauen noch nicht befreit! Sie müssen noch zuhause arbeiten, die Kinder betreuen. […] Ohne die Gleichberechtigung der Frau gibt es keinen Kommunismus. Helft der KP, eine neue Welt für die Frauen zu erschaffen!“

Vordenkerin kollektiver Sorgearbeit

Um eine Gesellschaft – um Politik und Ökonomie – gerechter zu gestalten, muss das, was wir heute Sorgearbeit nennen, anders organisiert werden, davon ist Kollontai überzeugt. Angesprochen sind damit die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, die familiäre Arbeitsteilung und die Organisation der Kindererziehung. Die monogame Ehe und klassische Kleinfamilie ist für sie ein überkommenes Relikt des Bürgertums, erläutert Katharina Volk.
„Sie sagt, dass in der kapitalistischen Gesellschaftsform eine wirkliche Liebe zwischen den Geschlechtern nicht entstehen kann, weil dieses Besitzdenken, was wir in der Ökonomie haben, das überträgt sich auch auf unser Verständnis dessen, wie wir mit Menschen umgehen, dass wir auch das Gefühl haben, wir können einen Menschen besitzen. Und ihr schwebt sozusagen ein viel feinfühligeres Verständnis von Liebe vor, was die Menschen erlernen müssen oder was sich entfalten muss in dieser stetigen Entwicklung hin zur kommunistischen Gesellschaft. Sodass man irgendwann bei einem sehr weiten Liebesbegriff ist, der nicht vergleichbar ist mit dem, den wir heute kennen.“

Ohne Liebe keine Solidarität

Die freie Liebe, die Kollontai propagiert, steht also weniger in der Tradition der Libertinage als im Zusammenhang mit einer Vorstellung von allumfassender „kameradschaftlicher Solidarität“ – die eng mit der Sorgearbeit verknüpft ist, wie Volk erläutert: „Darum muss eine Gesellschaft aufgebaut werden. Und das geht einher mit der Frage, wie wollen wir gemeinsam leben, also andere Wohnformen, andere Zuständigkeiten. Das heißt, dass wir auch die Sorge nicht nur um unsere eigenen Kinder oder Eltern haben, sondern dass wir die genauso haben um unsere Nachbarin oder die Arbeitskollegin. Also, dass wir eine ganz andere Empfindsamkeit gegenüber unseren Mitmenschen haben und einen ganz anderen Begriff von Solidarität leben.“
Kollontai schreibt dazu: „Die Gesellschaftsordnung, die auf Solidarität und Zusammenarbeit beruht, erfordert jedoch, dass die jeweilige Gesellschaft über ein hoch entwickeltes ‚Liebespotenzial‘ verfügt, d. h. zum Empfinden gegenseitiger Sympathie fähig ist. Solidarität kann nicht von langer Dauer sein, wenn solche Empfindungen nicht vorhanden sind.“

Weiter aktuell – trotz düsterer Seiten

Manche von Kollontais Ansichten wirken heute extrem problematisch – auch wenn sie unter ihren Zeitgenossen verbreitet waren. So hält sie das Kinderkriegen für eine Pflicht der Frauen, die zumindest während der Schwangerschaft die weibliche Selbstbestimmung übertrumpft. Und sie plädiert dafür, Menschen mit Erbkrankheiten die Fortpflanzung zu verbieten. Auch ihr Eintreten für eine demokratische Selbstorganisation ist widersprüchlich. Denn im parteiinternen Machtkampf ergreift sie letztlich Partei für Stalin und schweigt angesichts der späteren Massenverfolgungen.
Diese dunklen Flecken ihres Wirkens müssen wir heute im Blick behalten, sagt Katharina Volk. An Kollontais Ideen zu kollektiver Sorgearbeit und Solidarität empfiehlt sie trotzdem anzuknüpfen: „Das finde ich für die heutige Zeit natürlich total aktuell, weil wir erleben ja tagtäglich diese Widersprüche, die weiterhin existent sind. Die Kämpfe der Erzieherinnen auch jetzt in der aktuellen Tarifrunde – wo immer wieder die Frage gestellt wird, warum ist das Leben oder sind auch solche Arbeiten, wo es um Sorge geht, nicht gleich anerkannt wie andere Arbeiten unserer Gesellschaft?“

Katharina Volk: Alexandra Kollontai oder: Revolution für das Leben
Dietz, Berlin 2022
176 Seiten, 12 Euro

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