Revolutionäre Kunst

04.07.2012
Der Londoner Designer und Fotospezialist David King hat mehr als 150 Plakate von der Oktoberrevolution bis zur Stalin-Ära ausgewählt. Sie illustrieren in beeindruckender Weise die wechselvolle Geschichte der Sowjetunion und zeigen den Wandel in der künstlerischen Ausdrucksform.
Die Arme weit ausgebreitet steht die Frauenfigur im roten Kleid mit rotem Kopftuch vor einem schwarzen Hintergrund. Grau angedeutet nur das Leid, das sich dort abspielt: Tote Körper und brennende Häuser. "Faschismus - der schlimmste Feind der Frauen" steht in dicken weißen Lettern über der Szenerie.

Die Künstlerin Nina Watolina hat dieses Plakat im August 1941 entworfen; fünf Wochen nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in die Sowjetunion. Heute gilt es als eines der herausragenden Beispiele der russischen Plakatkunst des 20. Jahrhunderts und ist als solches nun in einem prächtigen Bildband wieder und neu zu entdecken - gemeinsam mit über 150 weiteren spektakulären russischen Plakaten aus der Sammlung von David King.

Der Londoner Designer und Fotospezialist, der eine der weltweit bedeutendsten Sammlungen russischer revolutionärer Kunst besitzt, hat für diesen Band Plakate aus über vier Jahrzehnten ausgewählt: von der Oktoberrevolution und der Zeit des Bürgerkrieges, über die Konsolidierung unter Lenin bis zur Stalin-Ära.

Die zumeist ganzseitig und durchweg in hervorragender Qualität abgedruckten Werke etwa von El Lissitzky, Alexander Rodtschenko, Dimitri Moor, Wladimir Majakowski, Viktor Deni und Gustav Klucis illustrieren in beeindruckender Weise die wechselvolle Geschichte der Sowjetunion. Und sie berichten Blatt für Blatt vom Wandel der künstlerischen Ausdrucksformen, der mit den verschiedenen historischen Etappen einherging.

So zeigt sich, dass politische und künstlerische Revolution zunächst eine Einheit bildeten: Experimentierfreude und große darstellerische Freiheit zeichnen die Plakate bis zur Mitte der 1920er Jahre aus. Ob es um die Aufforderung zum revolutionären Kampf, die Ächtung des Feindes, die Aufmunterung von Arbeitern und Bauern geht oder um den Aufruf zum Staatsaufbau und die Werbung für Bildungsprogramme - so vielfältig, so originell und so reich in der Gestaltung ist die russische Propagandakunst nur in ihren Anfängen.

Mit der Regentschaft Stalins wird sie schleichend schlichter. Unter dem Zeichen von Zensur steht sie im Dienste der Erfüllung von Arbeitsnormen und des Personenkults, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Sieg über die Faschisten in hemmungsloser Glorifizierung des Stalinismus kulminiert.

Es ist faszinierend diese Welten - politische wie künstlerische - von El Lissitzkys "Schlagt die Weißen mit dem roten Keil" (1920), über die Stalin heroisierenden Fotomontagen Gustav Klucis' (1933) bis hin zum "Banner des Sozialismus" von Maria Nesterowa-Beresina (1957) Revue passieren zu lassen.

Allerdings: So herausragend die Plakate und so überzeugend ihre Auswahl, so bedauerlich ist ihre dürftige Kontextualisierung. Den geschichtlichen Zusammenhang müssen sich die Leser in den - immerhin - ausführlichen Bildlegenden selber zusammensuchen. Wie gerne hätte man aber ein Glossar, eine Chronik, mehr Informationen über Leben und Werk der Künstler sowie einen kurzen Abriss der sowjetischen Geschichte!

Besprochen von Eva Hepper

David King: "Russische revolutionäre Plakate. Bürgerkrieg und bolschewistische Periode, sozialistischer Realismus und Stalin-Ära"
Aus dem Englischen von Peter Sondershausen
Mehring Verlag, Essen 2012
144 Seiten, 29,90 Euro
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