Revolution in der Türkei?
Seit ein paar Tagen ist alles anders in der Türkei, als es 100 Jahre lang war. Das Militär hat seine Wächterrolle über die Politik endgültig ausgespielt. Es ist kein Staat im Staat mehr. Das ist gut so. Wohin aber treibt die Türkei? Das ist nach wie vor eine Frage mit vielen möglichen Antworten.
Es war ein politischer Tsunami, der im Gewand einer drittklassigen Komödie daherkam. "Sie müssen wissen, was Sie tun", sagte Ministerpräsident Erdogan kurz angebunden zu Generalstabschef Isik Kosaner, als dieser ihm mit seinem Rücktritt drohte. Kosaner wollte wieder einmal Forderungen des Militärs durchsetzen, doch Erdogan ließ ihn einfach abblitzen. Fast slapstickartig endete vor ein paar Tagen eine hundertjährige Dominanz von hohen Offizieren in der türkischen Politik.
Seit 1908, als sie den Sultan zu einer Verfassung zwangen, die sie 1913 selbst wieder außer Kraft setzten, waren die Militärs die beherrschende Kraft in der türkischen Politik. Sie drängten das Land in den Ersten Weltkrieg, sie erkämpften die türkische Republik unter Mustafa Kemal, einem General und Weltkriegshelden, den man seitdem Atatürk nennt, den Vater der Türken.
Atatürk, dessen Statuen und Bilder in der Türkei so gegenwärtig sind wie einst die Lenins in der Sowjetunion, zwang sein Volk mit brachialen Mitteln in die Moderne. Er sah im Islam nichts als ein lästiges Fortschrittshindernis. Er orientierte sich am Westen, und das große westliche Vorbild seiner Zeit hieß Benito Mussolini. Wie der Italiener wollte er einen starken, futuristischen Staat.
In diesem war das Militär stets Avantgarde und der eigentliche Herr der Politik. Nach dem Tod Atatürks begriff sich der Generalstab als sein Erbe und Statthalter. Ging in seinen Augen etwas schief, griff man kurzerhand zum Mittel des Staatsstreichs. Und sah sich als Nachlassverwalter des Staatsgründers und seiner modernen, aufgeklärten Werte stets im Recht.
1960 wurde der Ministerpräsident dabei zum Opfer eines Henkers, 1980 walzten sich Panzer durch die großen Städte, und es wurde in Mengen gefoltert. 1997/98 reichte eine Drohkulisse, um die Regierung zu stürzen. 2007 ging es zum ersten Mal schief. Ein scharfes Statement gegen die Wahl des islamisch-konservativen AKP-Politikers Abdullah Gül zum Staatspräsidenten erschien auf der Website des Generalstabs. Es machte aber nicht den gewünschten Eindruck. Erdogan verordnete einfach Neuwahlen. Und gewann.
Jetzt hat nicht einmal mehr der kollektive Rücktritt des Generalstabschefs und der Oberkommandierenden der Teilstreitkräfte etwas ausrichten können. Seit ein paar Tagen ist alles anders in der Türkei, als es hundert Jahre lang war. Das Militär hat seine Wächterrolle über die Politik endgültig ausgespielt. Es ist kein Staat im Staat mehr. Das ist gut so.
Die für die Türkei zuständige Berichterstatterin des EU-Parlaments, Ria Oomen Ruijten, lässt angesichts solcher Nachrichten professionellen Optimismus walten. Das, meint sie, sei jedenfalls ein starker Ausdruck der fortschreitenden Demokratisierung der Türkei.
Kann sein. Die Verabschiedung des Militärs aus der Politik ist zumindest eine Grundvoraussetzung dafür. Trotzdem liegen die Dinge nicht ganz so einfach. Der sozialdemokratische Oppositionsführer in Ankara, Kemal Kilicdaroglu, gibt zu bedenken, Ruijten habe offenbar keine Augen dafür, wie ansonsten das Recht in seinem Land mit Füßen getreten werde.
Man applaudierte, als vor Jahren die türkische Justiz hohe Militärs verhaftete, die sie beschuldigt, einem geheimen "tiefen" Staat anzugehören, der sich gegen die Demokratie verschworen hat. Aber seit einiger Zeit wächst das Misstrauen, wer dieser Gruppe angeblich alles zugehören soll.
Etwa der Journalist Ahmet Sik, der 2007 für die sensationelle Aufdeckung mafiöser Strukturen im Militär sorgte? Oder Nedim Sener, der die Rolle der Sicherheitsdienste bei dem Mord an dem armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink aufdeckte? Beide - und 70 andere Vertreter der Presse - sitzen in Haft. Keiner weiß so recht, wieso. Offiziell, weil sie die gleichen Ziele verfolgen, wie die Offiziere des "tiefen" Staats.
In Wirklichkeit aber vermutlich eher, weil Sik beispielsweise die islamistische Unterwanderung der türkischen Polizei aufgedeckt hat, die offenbar auf dem besten Weg ist, ein neuer "tiefer" Staat zu werden. Wohin treibt die Türkei? Das ist nach wie vor eine orakelhafte Frage mit vielen möglichen Antworten.
Rolf Hosfeld, Publizist, Autor, Lektor und Filmemacher, geboren 1948 in Berleburg (NRW), studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften. Hosfeld lebt als freier Autor und Filmemacher auf dem Land bei Potsdam. Jüngste Buchveröffentlichungen: ‚Was war die DDR? Geschichte eines anderen Deutschlands’ und ‚Die Geister, die er rief. Eine neue Karl-Marx-Biografie’.
Seit 1908, als sie den Sultan zu einer Verfassung zwangen, die sie 1913 selbst wieder außer Kraft setzten, waren die Militärs die beherrschende Kraft in der türkischen Politik. Sie drängten das Land in den Ersten Weltkrieg, sie erkämpften die türkische Republik unter Mustafa Kemal, einem General und Weltkriegshelden, den man seitdem Atatürk nennt, den Vater der Türken.
Atatürk, dessen Statuen und Bilder in der Türkei so gegenwärtig sind wie einst die Lenins in der Sowjetunion, zwang sein Volk mit brachialen Mitteln in die Moderne. Er sah im Islam nichts als ein lästiges Fortschrittshindernis. Er orientierte sich am Westen, und das große westliche Vorbild seiner Zeit hieß Benito Mussolini. Wie der Italiener wollte er einen starken, futuristischen Staat.
In diesem war das Militär stets Avantgarde und der eigentliche Herr der Politik. Nach dem Tod Atatürks begriff sich der Generalstab als sein Erbe und Statthalter. Ging in seinen Augen etwas schief, griff man kurzerhand zum Mittel des Staatsstreichs. Und sah sich als Nachlassverwalter des Staatsgründers und seiner modernen, aufgeklärten Werte stets im Recht.
1960 wurde der Ministerpräsident dabei zum Opfer eines Henkers, 1980 walzten sich Panzer durch die großen Städte, und es wurde in Mengen gefoltert. 1997/98 reichte eine Drohkulisse, um die Regierung zu stürzen. 2007 ging es zum ersten Mal schief. Ein scharfes Statement gegen die Wahl des islamisch-konservativen AKP-Politikers Abdullah Gül zum Staatspräsidenten erschien auf der Website des Generalstabs. Es machte aber nicht den gewünschten Eindruck. Erdogan verordnete einfach Neuwahlen. Und gewann.
Jetzt hat nicht einmal mehr der kollektive Rücktritt des Generalstabschefs und der Oberkommandierenden der Teilstreitkräfte etwas ausrichten können. Seit ein paar Tagen ist alles anders in der Türkei, als es hundert Jahre lang war. Das Militär hat seine Wächterrolle über die Politik endgültig ausgespielt. Es ist kein Staat im Staat mehr. Das ist gut so.
Die für die Türkei zuständige Berichterstatterin des EU-Parlaments, Ria Oomen Ruijten, lässt angesichts solcher Nachrichten professionellen Optimismus walten. Das, meint sie, sei jedenfalls ein starker Ausdruck der fortschreitenden Demokratisierung der Türkei.
Kann sein. Die Verabschiedung des Militärs aus der Politik ist zumindest eine Grundvoraussetzung dafür. Trotzdem liegen die Dinge nicht ganz so einfach. Der sozialdemokratische Oppositionsführer in Ankara, Kemal Kilicdaroglu, gibt zu bedenken, Ruijten habe offenbar keine Augen dafür, wie ansonsten das Recht in seinem Land mit Füßen getreten werde.
Man applaudierte, als vor Jahren die türkische Justiz hohe Militärs verhaftete, die sie beschuldigt, einem geheimen "tiefen" Staat anzugehören, der sich gegen die Demokratie verschworen hat. Aber seit einiger Zeit wächst das Misstrauen, wer dieser Gruppe angeblich alles zugehören soll.
Etwa der Journalist Ahmet Sik, der 2007 für die sensationelle Aufdeckung mafiöser Strukturen im Militär sorgte? Oder Nedim Sener, der die Rolle der Sicherheitsdienste bei dem Mord an dem armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink aufdeckte? Beide - und 70 andere Vertreter der Presse - sitzen in Haft. Keiner weiß so recht, wieso. Offiziell, weil sie die gleichen Ziele verfolgen, wie die Offiziere des "tiefen" Staats.
In Wirklichkeit aber vermutlich eher, weil Sik beispielsweise die islamistische Unterwanderung der türkischen Polizei aufgedeckt hat, die offenbar auf dem besten Weg ist, ein neuer "tiefer" Staat zu werden. Wohin treibt die Türkei? Das ist nach wie vor eine orakelhafte Frage mit vielen möglichen Antworten.
Rolf Hosfeld, Publizist, Autor, Lektor und Filmemacher, geboren 1948 in Berleburg (NRW), studierte Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften. Hosfeld lebt als freier Autor und Filmemacher auf dem Land bei Potsdam. Jüngste Buchveröffentlichungen: ‚Was war die DDR? Geschichte eines anderen Deutschlands’ und ‚Die Geister, die er rief. Eine neue Karl-Marx-Biografie’.