Rettungsanker Ostalgie
Die DDR ist auf die Größe von Tutow geschrumpft. Und Tutow ist seit der Wende um ein Drittel seiner Einwohner auf 1600 Einwohner geschrumpft. Also musste etwas Neues her. Etwas, was es noch nicht oder so nicht mehr gibt – die DDR. Also wurde ein DDR-Restaurant und -Museum eingerichtet und eröffnet. Die Touristen kommen und gehen. Und DDR-Initiator Fred Spiegel träumt von einem Pensionsbetrieb unter dem Motto „Urlaub in der DDR“. Gleich gegenüber in dem Neubaublock, aus dem immer Tutower wegziehen
Pionierlied: „Wir tragen die blaue Fahne, es ruft uns der Glocke Klang... "
Was hat er nur falsch gemacht? Er hatte alle Qualifikationen, die man im DDR-Gaststättenwesen haben konnte. Zwei Facharbeiterbriefe – Koch und Kellner, den Gaststättenleiter, den Meister und sogar den Eiskoch. Mehr war wirklich nicht drin.
Der Mann, der die viereckigen Teller sucht, ist Fred Spiegel. Klein, drahtig, Igelhaare, Uniform. Herr Spiegel also hatte alle fachlichen Voraussetzungen, um nach der Wende vom Konsum-Gaststättenwesen in die private Wirtschaft umzusteigen. Am Anfang ging das auch noch gut. Sechs Gaststätten betrieb Fred Spiegel in Mecklenburg-Vorpommern und ein paar andere Immobilien hatte er auch noch. Darunter ein Gebäude, das einst zu einer russischen Kaserne in Tutow, Vorpommern gehörte.
Spiegel: „In der ersten Zeit war es gut, aber mit zunehmendem Mangel an Geld in den Taschen der Leute hier – wir haben hier eine Arbeitslosigkeit von 60 bis 70%, also die höchste in der Bundesrepublik – wurde natürlich die Gaststätte immer weniger besucht. Und hat sich letztendlich nicht mehr gerechnet. "
Auch Fred Spiegel musste die Welt begreifen lernen, die neue Welt. Er ging pleite. Insolvenz. Alles weg. Keiner gab mehr einen Kredit, um etwas Neues zu beginnen. Und etwas Neues sollte es doch sein.
Etwas wirklich Neues sollte es sein. Nicht mehr nur eine Kneipe, sondern ein Ausflugsziel. Und so gibt es nun, nachdem seine frühere Angestellte die Immobilie erwerben konnte und Herr Spiegel nun ihr Mitarbeiter ist, außer Bier, Kuchen und Kaffee auch etwas, das es nirgendwo mehr gibt: die DDR. Ein Auszug aus dem Gästebuch.
Gästebuch: „Wir kommen immer wieder her
zum Restbestand der DDR.
Familie Hemp, Güstrow“
Hier hört, hier sieht und fühlt man ihn, den „Restbestand der DDR“, wie es Familie Hemp im Gästebuch formulierte. Aus dem Lautsprecher tönen Pionierlieder. Jeder Quadratzentimeter der Gaststätte ist belegt mit Erinnerungsstücken. Ein Hausaufgabenheft mit dem Eintrag: 40 Pfennig Pionierbeitrag nicht vergessen! Sklavenaufstand lernen! Eine Urkunde vom 6. Leistungsvergleich der Schulküchen (die es heute gar nicht mehr gibt), Speisekarten, Wandzeitungen, Limonade-Flaschen, bronze-goldfarbene Schulbrotbüchsen, die Preistafel für Wurstwaren aus dem Konsum, Ausweise und Erlaubnisse, umhäkelte Klopapierrollen, FDJ-Hemden, Uniformen, Pionierhalstücher und: Lampen, Lampen, Lampen. Die gesamte Decke voller Lampen Marke volkseigenes Design. Mit den Lampen begann alles.
Spiegel: „Es hat angefangen eigentlich mit ‚ner Lampe, die im Heizungsraum gelegen hat. Die hatte drei oder vier Glocken, und ich bin da laufend rüber gestiegen. Ich wollte die eigentlich nicht wegschmeißen, weil die Glocken, das hat sicherlich auch Arbeit gemacht, das herzustellen. Und dann habe ich gesagt: Die Lampe, die kommt jetzt an die Decke, die muss ja nicht brennen. Dann kann sie nicht kaputt gehen. Dann haben wir noch eine Lampe gefunden, die lag mal auf dem Sperrmüll. Habe ich gesagt: Die sieht ja schick aus, Donnerwetter! Hab‘ ich sie schön sauber gemacht und dazu gehängt. Und plötzlich wurde dann von den Besuchern – völlig unfreiwillig – die Lampenausstellung an der Decke. Mensch, wir haben noch ‚ne Lampe, wollt ihr die nicht haben? Und ich sage, um den Gast auch nicht zu enttäuschen: Klar, nehmen wir die Lampe! Und jetzt suchen wir sie richtig. "
Gästebuch: „Wir finden es eine prima Idee, ein Ostalgie-Restaurant und -Museum zu eröffnen. Man erinnert sich gern an die alte Zeit und denkt, es wär‘ erst gestern gewesen.
Grüße aus Boxberg, Familie Bernicke“
Spiegel: „Wir haben festgestellt, dass die Lampen in ihrer Vielfalt – und manche sind ja so häßlich, dass sie schon wieder schön sind – lacht – viele Gäste sitzen beim Kaffeetrinken, oder einer trinkt ‚nen Schnaps. Wohin geht der Blick? Nach oben, weil er den Kopf anheben muss! Da sieht er erstmal alle Lampen.. Und viele sagen: Mensch, guck mal, det is die Lampe, die Oma in der Küche hatte! Und dann geht es eigentlich gar nicht mehr um die Lampe, sondern dann geht es um die Oma. Die so tolle Hefeklöße gemacht hat und: Weeßte noch, wie wir uns dann welche geklaut haben? Und wo es mal Senge und Mecker gab? Dann geht das um ihre eigene Vergangenheit, dann geht das um die netten Stunden mit der Mutter oder mit der Oma. Und man rutscht von einem Thema ins andere. Es sind so viele Erinnerungen an früher, die mit Sicherheit nicht alle was mit Politik zu tun haben, wo sie darin zurückfallen und angenehme Stunden verleben. "
Fred Spiegel in seiner NVA-Uniform muss rasch ein paar Gäste begrüßen.
„...Fühlen Sie sich wie zu Hause! / Ich fühl‘ mich wie zu Hause! Die Uniform hängt bei uns noch im Schrank! / Na hervorragend, nicht wegschmeißen! Und wenn wegschmeißen, dann hierher bringen! / Bei uns wird nichts weggeschmissen, es wird alles gesammelt. / Hervorragend. Lassen Sie Ihr Geld stecken, wir wollen kein Geld, nein. Wenn Sie aber nachher vielleicht einen Kaffee trinken oder ein Eis essen, dann freuen wir uns./ Ja, gut... "
Noch ist es ein kunterbuntes Sammelsurium, aus dem das Museum besteht. Platz zum Ordnen und Archivieren, zum Ausstellen nach Themengruppen fehlt zwischen Tresen, Tischen und Stühlen. Tausende Gegenstände, von vielen Besuchern eigenhändig gebracht und gespendet, lagern noch in Kisten. Fred Spiegel schaut aus dem Fenster und zeigt auf den Neubaublock gegenüber. Immer mehr Leute ziehen dort aus. Ein Neubaublock in Tutow wurde schon abgerissen – das Dorf, in dem heute noch 1600 Menschen leben, verlor in den letzten Jahren ein Drittel seiner Einwohner. An dem Plattenbau gegenüber machen sich Fred Spiegels Hoffnungen fest.
Spiegel: „Wenn das dann so weit ist, dass der hier gegenüber abgerissen wird, dann wollen wir doch, dass die Bundesrepublik die 200.000, die für den Abriss benötigt werden, nicht ausgibt und sie vielleicht für ein Altersheim oder eine Schule oder was anderes verwendet. Und uns den Neubau übereignet und sagt: Hier habt ihr. Wir machen schon was draus. Wir sind hier genug Leute, die engagiert sind und die wollen, dass hier was passiert. "
Vier Aufgänge hat der Neubaublock, also viele, viele Wohnungen. Einen Teil möchte der Museums-Mann als Archiv und Lager nutzen, einen Teil für Themenausstellungen zu den verschiedenen Parteien und Massenorganisationen der DDR, und einen Teil als Pensionsbetrieb unter dem Motto „Urlaub in der DDR“.
Spiegel: „Alle Einrichtungsgegenstände werden DDR-Gegenstände sein. Also, wenn Sie da reinkommen, werden Sie erstmal das nette Linoleum auf dem Fußboden sehen und das Bad wird eben mal nicht gefliest sein. Ich weiß, dass wir in der DDR auch geflieste Bäder hatten, aber in den 50er, 60er Jahren war da ein Ölanstrich, und so soll es eben gemacht werden. Dass Sie, wenn Sie reinkommen, die DDR riechen. Sag ich mal. Der Multifunktionstisch, den man hoch- und runterkurbeln kann und der dann trotzdem noch wackelt. Und so gibt es die verschiedensten Sachen, Assoziationsgegenstände. Wenn Sie hingucken, sagen Sie: Das ist aus dem Osten. Oder: Das ist die DDR. "
Gästebuch: „Wir wurden in unsere Vergangenheit zurückgeführt, wenn auch nur in Bildern und Utensilien. Es war immer ein Schmunzeln auf unseren Gesichtern. Und unseren Kindern konnten wir zeigen, wie unsere Kinderzeit war.
Familie Bollmann, Strasburg“
Spiegel: „Wenn wir erreichen, dass jeder, der hierher kommt, einmal lacht oder sich freut, und sagt: Das ist ja toll, dass es so was noch gibt, guck mal die kleine Puppe, genau die gleiche habe ich früher auch gehabt! Wo ist denn die und: War das nicht schön? Wenn wir das erreichen, haben wir schon sehr viel geschafft. Und er kommt wahrscheinlich wieder. Und das ist das eigentlich, letztendlich grundlegende Ziel unserer Sache: Wir müssen, wenn wir hier nicht verhungern wollen, sag ich mal, wenn wir weiter vernünftig leben wollen, müssen wir den Gästen, die hier nach Mecklenburg-Vorpommern kommen, was bieten, was sie sonst woanders nicht kriegen. "
Was gibt es hier, was es woanders nicht gibt? Vielleicht die Bestätigung für ein politisch etwas unkorrektes Gefühl? Für ein Gefühl, das jenseits des Rationalen, jenseits der Medien-, Politiker- und Lehrbuchmeinung liegt? Für ein Gefühl, das tief im Inneren sagt: Wir haben uns wohl gefühlt in der DDR. Wir haben nicht – oder nicht nur – gelitten. Das Leben war auch schön.
Besucherin: „Also, was ich so gut fand an unserer Zeit: Das Leben an sich war gar nicht so schlecht. Hat sich einer ‚ne Anbauwand gekauft. Du, ich hab ‚ne Anbauwand gekauft, komm mal gucken! Da sind alle, die Freunde waren oder wie auch immer, gucken gegangen: Oh ja, ‚ne schicke, neue Anbauwand. Na, und ein Auto sowieso. Da lief ja gar nichts mehr. Wenn einer ein neues Auto hatte, alle haben sofort geguckt. Es war keiner neidisch, und das fand ich so sehr gut. Genauso, wenn es Geld gegeben hat. Wir hatten unsere Lohnzettel, da hat der Nachbar dagesessen, der konnte auf den Lohnzettel gucken. Ach, du hast so und soviel verdient, ich bloß soviel. Da war keiner neidisch, Wir haben direkt auf den Lohnzettel des anderen geguckt, jeder wusste in etwa, was der andere verdient. Das war ‚ne Selbstverständlichkeit. Und heute diese Heimlichkeit bis zum Gehtnichtmehr. Wehe, es verdient einer 50 Euro mehr, da stehen doch Tote auf, so ungefähr! Und das war nicht. Das war das Schöne und das Gemütliche. Wir haben uns gefreut, wenn wir Feierlichkeiten hatten, wir hatten unseren Frauentag und unseren Lehrertag. Das war wunderschön, da hat sich jeder drauf gefreut. Das war irgendwie eine Gemeinschaft. Wenn gefeiert wurde, das war phantastisch. "
Die pensionierte Lehrerin aus Dorf Mecklenburg rührt in ihrem bronzefarbenen Eisbecher. Sie hat, wie ihre beiden Kolleginnen am Tisch der Tutower Museumsgaststätte auch, in ihrem Berufsleben beide Systeme erlebt. Jetzt, so sagen alle drei, sind sie froh, Rentnerinnen zu sein. Es tat ihnen weh, zuzusehen, wie sinnvolle Dinge an ihrer Schule nach der Wende abgeschafft wurden, nur weil sie nach DDR rochen: Der Schulgarten zum Beispiel und die 15 Arbeitsgemeinschaften, die die Lehrer am Nachmittag für die Schüler anboten. Und wenn es jetzt heißt: Ganztagsschulen müssen her! Nachmittagsangebote für Kinder! Soziale Kompetenzen üben! Die Arbeitswelt kennen lernen! Da können sie nur lächeln, müde lächeln.
Lehrerin: „Wie oft haben wir Rüben gehackt, um uns Reisen finanzieren zu können. Wir waren jedes Jahr mit den 9. und 10. Klassen unterwegs im Ausland. Sowjetunion, Tschechoslowakei, Polen oder quer durch die DDR. Das haben wir uns alles erarbeitet, und das hat soviel Spaß gemacht, diese Gemeinsamkeit, das zu erarbeiten und das hinterher auch gemeinsam zu verprassen. Das war wirklich gut. Und das fehlt heute viel. "
Das Es-war-doch-nicht-alles-schlecht-Gefühl lebt so richtig auf zwischen Eisbechern, und Lampen, Urkunden und Abzeichen, Zeitungsausschnitten und Büchern. Die Taue der Erinnerung können sich hier festmachen.
Gästebuch: „Sehr beeindruckt und in eine andere Welt versetzt genießen wir Ihre angebotenen Getränke und wünschen, dass Sie zukünftig Glück haben in der Erweiterung und Erhaltung des Museums.
Thorsten und Matthias, Hamburg“
Auch die „von der anderen Seite“, wie es die Lehrerin ausdrückte, kommen in das Tutower Museum. Das fällt unter Völkerverständigung, meint der Museumschef und tut alles dafür, ganze Reisebusse in Richtung Vorpommern zu lenken. „Reise in die DDR“ heißt das Ganze dann und es gibt an einem solchen Tag immer ein besonderes Programm – mit DDR-Menü, DDR-Tanzmusik und DDR-Kabarett.
Spiegel: „Wir hatten einen Bus aus Schleswig-Holstein, den ersten. Sonst war immer Berlin, Rostock und Schwerin hier zu Gast. Und da habe ich doch sehr unruhig geschlafen. Weil ich dachte: Mann, jetzt kommen die Wessis hierher, wie nehmen die das überhaupt auf? Sagen sie, das ist alles Plunder hier? Also, ich war schon drauf gefasst, dass die Veranstaltung für die Leute, weil sie ja viele Artikel nicht mit den Augen sehen, wie der DDR-Bürger das sieht – dass die dann vielleicht nicht so begeistert sind. Und ich muss Ihnen sagen – bei den Ossis, sag ich mal, tobt um 16 Uhr der Saal. Alles freut sich und guckt, rennt rum, es wird sich viel angeguckt, Fragen werden gestellt, es wird getanzt – also, der Saal tobt. Bei den Leuten aus Schleswig-Holstein hat der Saal schon um 15 Uhr getobt. Die waren richtig happy und es hat ihnen richtig gut gefallen. Ich war natürlich sehr erleichtert und glücklich darüber, dass denen das so gut gefallen hat. "
Gästebuch: „Heute zum Herrentag wurde der Wirt unfreiwillig mit Westbesuch kontaktiert. Darum der Eintrag ins Hausbuch. Bitte weitergeben an den ABV.
Mit sozialistischem Gruß Paul und Reinhild Schöbel aus dem Ruhrgebiet“
Unbekümmert jongliert der Gästebuchschreiber aus dem Ruhrgebiet mit Begriffen wie „Hausbuch“ und „ABV“ – im Museum hat er gelernt, dass es in der DDR üblich war, jeden länger verweilenden Besuch in einem Hausbuch einzutragen, und dass der ABV der Polizist für ein Dorf oder einen Stadtteil war.
Spiegel: „Wir wollen den Rückblick in die Zeit als geschichtlichen Rückblick betrachten, wollen da auch eine Chronologie reinbringen, aber nicht in erster Linie eine politische Auseinandersetzung führen. Weil, es gibt so viel Stress in der Welt, warum müssen wir den auch noch machen? Es soll einfach schön sein. Es gibt viele Leute, die haben an die DDR gute Erinnerungen. Es gibt Leute, die politisch vielleicht verfolgt wurden. Diese Leute können sich ein und dasselbe Buch ansehen, aber können mit völlig unterschiedlichem Blickwinkel auf dieses Buch gucken. Und der eine sagt: Um Gottes willen, das ist ja ganz schlimm! Und der andere sagt: Mensch, da kann ich mich dran erinnern, das war ‚ne schöne Zeit. "
Das war eine schöne Zeit. Der Ostalgie-Effekt wirkt naturgemäß bei jenen besonders, denen das Ankommen in der neuen Gesellschaft nicht gelingt oder denen es verwehrt ist, bei jenen, die sich überflüssig vorkommen müssen. 60 bis 70 Prozent reale Arbeitslosigkeit, das Dorf von einem Drittel seiner Einwohner verlassen – das Damoklesschwert hängt nicht mehr drohend über der vorpommerschen Region, es ist schon längst herabgesaust.
Fünf Minuten vom DDR-Museum entfernt, in einem hübschen Haus an einem gepflegten Park, der gerade von zwei Ein-Euro-Job-Männern gefegt wird, ist Tutows Arbeitslosentreff. Ein paar Frauen sitzen bei Kaffee und selbstgebackenem Kuchen. Dass sie einmal dabei ist, hätte die 30-jährige Anja Melzer-Tews auch nie gedacht.
700 Tutower verließen schon ihre Heimat. Viele Wohnungen und Häuser stehen leer. „Tutow – dort wo Deutschland am Ende ist“ titelte eine Fernsehsendung. Seit dem Film ist im Dorf keiner mehr gut auf Journalisten zu sprechen.
Melzer-Tews: „Das Fernsehteam hat bestimmt ein gutes Jahr bei uns gedreht und hat sich auch sehr eingeschmeichelt im Dorf. Jeder konnte sie gut leiden, jeder kannte sie und sie waren auf allen Festlichkeiten und Feiern. Wir haben hier viele Freizeitaktivitäten, Sportvereine, Karnevalsclub, Feuerwehrverein, alle sind im Grunde organisiert. Und sie waren überall dabei. Letztendlich haben sich alle sehr auf den Film gefreut, der sollte 45 Minuten gehen. Und dann war nachts überall in Tutow noch Licht an, der Film kam erst nach 22 Uhr, und alle saßen gebannt vorm Bildschirm. Und dann kam im Grunde unsere Penner, die vorm Penny saßen und ihre Bierrunde machten und Neubaubauten, die abgerissen wurden. Und das war's – ‚ne dreiviertel Stunde lang! Es wurde nur der ehemalige Platz gezeigt. Aber wir haben auch ein sehr schönes Dorf. Natürlich war es die Wahrheit, die da gezeigt wurde, aber es war nur die halbe Wahrheit. Es gibt auch die schönen Seiten, warum wir hier sind, und die wurden total rausgeschnitten. Meine Schwester, die wohnt in Flensburg, und die hat allen ihren Kollegen gesagt: Mensch, Tutow kommt im Fernsehen, guckt doch mal! Und die hat nachts angerufen, und sie hat bitterlich geweint am Telefon und gesagt: Wenn die das gesehen haben, die denken, ich komme aus den letzten Slums.“
Alles, was Tutow trotz allem lebenswert macht, blenden die Medien gern aus, sagt die junge Frau und lobt die schöne Gegend, die Seen um die Ecke, die gute Autobahnanbindung, die Kinderbetreuung, die schönen und gepflegten Häuser jenseits des so genannten „Platzes“, des Plattenbaugebiets, die Vereine und Klubs, den Zusammenhalt in den Familien und im ganzen Dorf.
Auch Fred Spiegel und sein DDR-Museumsprojekt kamen nicht in dem Fernsehfilm vor. Kann ich mit leben, murmelt der Chef. Und weiß doch genau, dass seine meist zuversichtlichen Sätze eben einfach nicht gepasst haben, wenn man die Geschichte eines Dorfes, das am Ende ist, erzählen will. Aber genau mit diesem Ende will sich Fred Spiegel eben nicht abfinden.
Drin in der Gaststätte läuft endlos das Band mit den Pionierliedern. Die sie einst sangen, sitzen nun, Soljanka löffelnd, im Wechselbad der Gefühle da. Eine Frau um die 50 klappt das Gästebuch zu und legt den Stift daneben.
Gästebuch: „Ja, das war unsere Zeit. Wir wollen sie zwar so nicht mehr wieder haben, aber es war unser Leben. Barbara Vollbracht, Magdeburg“
Was hat er nur falsch gemacht? Er hatte alle Qualifikationen, die man im DDR-Gaststättenwesen haben konnte. Zwei Facharbeiterbriefe – Koch und Kellner, den Gaststättenleiter, den Meister und sogar den Eiskoch. Mehr war wirklich nicht drin.
Der Mann, der die viereckigen Teller sucht, ist Fred Spiegel. Klein, drahtig, Igelhaare, Uniform. Herr Spiegel also hatte alle fachlichen Voraussetzungen, um nach der Wende vom Konsum-Gaststättenwesen in die private Wirtschaft umzusteigen. Am Anfang ging das auch noch gut. Sechs Gaststätten betrieb Fred Spiegel in Mecklenburg-Vorpommern und ein paar andere Immobilien hatte er auch noch. Darunter ein Gebäude, das einst zu einer russischen Kaserne in Tutow, Vorpommern gehörte.
Spiegel: „In der ersten Zeit war es gut, aber mit zunehmendem Mangel an Geld in den Taschen der Leute hier – wir haben hier eine Arbeitslosigkeit von 60 bis 70%, also die höchste in der Bundesrepublik – wurde natürlich die Gaststätte immer weniger besucht. Und hat sich letztendlich nicht mehr gerechnet. "
Auch Fred Spiegel musste die Welt begreifen lernen, die neue Welt. Er ging pleite. Insolvenz. Alles weg. Keiner gab mehr einen Kredit, um etwas Neues zu beginnen. Und etwas Neues sollte es doch sein.
Etwas wirklich Neues sollte es sein. Nicht mehr nur eine Kneipe, sondern ein Ausflugsziel. Und so gibt es nun, nachdem seine frühere Angestellte die Immobilie erwerben konnte und Herr Spiegel nun ihr Mitarbeiter ist, außer Bier, Kuchen und Kaffee auch etwas, das es nirgendwo mehr gibt: die DDR. Ein Auszug aus dem Gästebuch.
Gästebuch: „Wir kommen immer wieder her
zum Restbestand der DDR.
Familie Hemp, Güstrow“
Hier hört, hier sieht und fühlt man ihn, den „Restbestand der DDR“, wie es Familie Hemp im Gästebuch formulierte. Aus dem Lautsprecher tönen Pionierlieder. Jeder Quadratzentimeter der Gaststätte ist belegt mit Erinnerungsstücken. Ein Hausaufgabenheft mit dem Eintrag: 40 Pfennig Pionierbeitrag nicht vergessen! Sklavenaufstand lernen! Eine Urkunde vom 6. Leistungsvergleich der Schulküchen (die es heute gar nicht mehr gibt), Speisekarten, Wandzeitungen, Limonade-Flaschen, bronze-goldfarbene Schulbrotbüchsen, die Preistafel für Wurstwaren aus dem Konsum, Ausweise und Erlaubnisse, umhäkelte Klopapierrollen, FDJ-Hemden, Uniformen, Pionierhalstücher und: Lampen, Lampen, Lampen. Die gesamte Decke voller Lampen Marke volkseigenes Design. Mit den Lampen begann alles.
Spiegel: „Es hat angefangen eigentlich mit ‚ner Lampe, die im Heizungsraum gelegen hat. Die hatte drei oder vier Glocken, und ich bin da laufend rüber gestiegen. Ich wollte die eigentlich nicht wegschmeißen, weil die Glocken, das hat sicherlich auch Arbeit gemacht, das herzustellen. Und dann habe ich gesagt: Die Lampe, die kommt jetzt an die Decke, die muss ja nicht brennen. Dann kann sie nicht kaputt gehen. Dann haben wir noch eine Lampe gefunden, die lag mal auf dem Sperrmüll. Habe ich gesagt: Die sieht ja schick aus, Donnerwetter! Hab‘ ich sie schön sauber gemacht und dazu gehängt. Und plötzlich wurde dann von den Besuchern – völlig unfreiwillig – die Lampenausstellung an der Decke. Mensch, wir haben noch ‚ne Lampe, wollt ihr die nicht haben? Und ich sage, um den Gast auch nicht zu enttäuschen: Klar, nehmen wir die Lampe! Und jetzt suchen wir sie richtig. "
Gästebuch: „Wir finden es eine prima Idee, ein Ostalgie-Restaurant und -Museum zu eröffnen. Man erinnert sich gern an die alte Zeit und denkt, es wär‘ erst gestern gewesen.
Grüße aus Boxberg, Familie Bernicke“
Spiegel: „Wir haben festgestellt, dass die Lampen in ihrer Vielfalt – und manche sind ja so häßlich, dass sie schon wieder schön sind – lacht – viele Gäste sitzen beim Kaffeetrinken, oder einer trinkt ‚nen Schnaps. Wohin geht der Blick? Nach oben, weil er den Kopf anheben muss! Da sieht er erstmal alle Lampen.. Und viele sagen: Mensch, guck mal, det is die Lampe, die Oma in der Küche hatte! Und dann geht es eigentlich gar nicht mehr um die Lampe, sondern dann geht es um die Oma. Die so tolle Hefeklöße gemacht hat und: Weeßte noch, wie wir uns dann welche geklaut haben? Und wo es mal Senge und Mecker gab? Dann geht das um ihre eigene Vergangenheit, dann geht das um die netten Stunden mit der Mutter oder mit der Oma. Und man rutscht von einem Thema ins andere. Es sind so viele Erinnerungen an früher, die mit Sicherheit nicht alle was mit Politik zu tun haben, wo sie darin zurückfallen und angenehme Stunden verleben. "
Fred Spiegel in seiner NVA-Uniform muss rasch ein paar Gäste begrüßen.
„...Fühlen Sie sich wie zu Hause! / Ich fühl‘ mich wie zu Hause! Die Uniform hängt bei uns noch im Schrank! / Na hervorragend, nicht wegschmeißen! Und wenn wegschmeißen, dann hierher bringen! / Bei uns wird nichts weggeschmissen, es wird alles gesammelt. / Hervorragend. Lassen Sie Ihr Geld stecken, wir wollen kein Geld, nein. Wenn Sie aber nachher vielleicht einen Kaffee trinken oder ein Eis essen, dann freuen wir uns./ Ja, gut... "
Noch ist es ein kunterbuntes Sammelsurium, aus dem das Museum besteht. Platz zum Ordnen und Archivieren, zum Ausstellen nach Themengruppen fehlt zwischen Tresen, Tischen und Stühlen. Tausende Gegenstände, von vielen Besuchern eigenhändig gebracht und gespendet, lagern noch in Kisten. Fred Spiegel schaut aus dem Fenster und zeigt auf den Neubaublock gegenüber. Immer mehr Leute ziehen dort aus. Ein Neubaublock in Tutow wurde schon abgerissen – das Dorf, in dem heute noch 1600 Menschen leben, verlor in den letzten Jahren ein Drittel seiner Einwohner. An dem Plattenbau gegenüber machen sich Fred Spiegels Hoffnungen fest.
Spiegel: „Wenn das dann so weit ist, dass der hier gegenüber abgerissen wird, dann wollen wir doch, dass die Bundesrepublik die 200.000, die für den Abriss benötigt werden, nicht ausgibt und sie vielleicht für ein Altersheim oder eine Schule oder was anderes verwendet. Und uns den Neubau übereignet und sagt: Hier habt ihr. Wir machen schon was draus. Wir sind hier genug Leute, die engagiert sind und die wollen, dass hier was passiert. "
Vier Aufgänge hat der Neubaublock, also viele, viele Wohnungen. Einen Teil möchte der Museums-Mann als Archiv und Lager nutzen, einen Teil für Themenausstellungen zu den verschiedenen Parteien und Massenorganisationen der DDR, und einen Teil als Pensionsbetrieb unter dem Motto „Urlaub in der DDR“.
Spiegel: „Alle Einrichtungsgegenstände werden DDR-Gegenstände sein. Also, wenn Sie da reinkommen, werden Sie erstmal das nette Linoleum auf dem Fußboden sehen und das Bad wird eben mal nicht gefliest sein. Ich weiß, dass wir in der DDR auch geflieste Bäder hatten, aber in den 50er, 60er Jahren war da ein Ölanstrich, und so soll es eben gemacht werden. Dass Sie, wenn Sie reinkommen, die DDR riechen. Sag ich mal. Der Multifunktionstisch, den man hoch- und runterkurbeln kann und der dann trotzdem noch wackelt. Und so gibt es die verschiedensten Sachen, Assoziationsgegenstände. Wenn Sie hingucken, sagen Sie: Das ist aus dem Osten. Oder: Das ist die DDR. "
Gästebuch: „Wir wurden in unsere Vergangenheit zurückgeführt, wenn auch nur in Bildern und Utensilien. Es war immer ein Schmunzeln auf unseren Gesichtern. Und unseren Kindern konnten wir zeigen, wie unsere Kinderzeit war.
Familie Bollmann, Strasburg“
Spiegel: „Wenn wir erreichen, dass jeder, der hierher kommt, einmal lacht oder sich freut, und sagt: Das ist ja toll, dass es so was noch gibt, guck mal die kleine Puppe, genau die gleiche habe ich früher auch gehabt! Wo ist denn die und: War das nicht schön? Wenn wir das erreichen, haben wir schon sehr viel geschafft. Und er kommt wahrscheinlich wieder. Und das ist das eigentlich, letztendlich grundlegende Ziel unserer Sache: Wir müssen, wenn wir hier nicht verhungern wollen, sag ich mal, wenn wir weiter vernünftig leben wollen, müssen wir den Gästen, die hier nach Mecklenburg-Vorpommern kommen, was bieten, was sie sonst woanders nicht kriegen. "
Was gibt es hier, was es woanders nicht gibt? Vielleicht die Bestätigung für ein politisch etwas unkorrektes Gefühl? Für ein Gefühl, das jenseits des Rationalen, jenseits der Medien-, Politiker- und Lehrbuchmeinung liegt? Für ein Gefühl, das tief im Inneren sagt: Wir haben uns wohl gefühlt in der DDR. Wir haben nicht – oder nicht nur – gelitten. Das Leben war auch schön.
Besucherin: „Also, was ich so gut fand an unserer Zeit: Das Leben an sich war gar nicht so schlecht. Hat sich einer ‚ne Anbauwand gekauft. Du, ich hab ‚ne Anbauwand gekauft, komm mal gucken! Da sind alle, die Freunde waren oder wie auch immer, gucken gegangen: Oh ja, ‚ne schicke, neue Anbauwand. Na, und ein Auto sowieso. Da lief ja gar nichts mehr. Wenn einer ein neues Auto hatte, alle haben sofort geguckt. Es war keiner neidisch, und das fand ich so sehr gut. Genauso, wenn es Geld gegeben hat. Wir hatten unsere Lohnzettel, da hat der Nachbar dagesessen, der konnte auf den Lohnzettel gucken. Ach, du hast so und soviel verdient, ich bloß soviel. Da war keiner neidisch, Wir haben direkt auf den Lohnzettel des anderen geguckt, jeder wusste in etwa, was der andere verdient. Das war ‚ne Selbstverständlichkeit. Und heute diese Heimlichkeit bis zum Gehtnichtmehr. Wehe, es verdient einer 50 Euro mehr, da stehen doch Tote auf, so ungefähr! Und das war nicht. Das war das Schöne und das Gemütliche. Wir haben uns gefreut, wenn wir Feierlichkeiten hatten, wir hatten unseren Frauentag und unseren Lehrertag. Das war wunderschön, da hat sich jeder drauf gefreut. Das war irgendwie eine Gemeinschaft. Wenn gefeiert wurde, das war phantastisch. "
Die pensionierte Lehrerin aus Dorf Mecklenburg rührt in ihrem bronzefarbenen Eisbecher. Sie hat, wie ihre beiden Kolleginnen am Tisch der Tutower Museumsgaststätte auch, in ihrem Berufsleben beide Systeme erlebt. Jetzt, so sagen alle drei, sind sie froh, Rentnerinnen zu sein. Es tat ihnen weh, zuzusehen, wie sinnvolle Dinge an ihrer Schule nach der Wende abgeschafft wurden, nur weil sie nach DDR rochen: Der Schulgarten zum Beispiel und die 15 Arbeitsgemeinschaften, die die Lehrer am Nachmittag für die Schüler anboten. Und wenn es jetzt heißt: Ganztagsschulen müssen her! Nachmittagsangebote für Kinder! Soziale Kompetenzen üben! Die Arbeitswelt kennen lernen! Da können sie nur lächeln, müde lächeln.
Lehrerin: „Wie oft haben wir Rüben gehackt, um uns Reisen finanzieren zu können. Wir waren jedes Jahr mit den 9. und 10. Klassen unterwegs im Ausland. Sowjetunion, Tschechoslowakei, Polen oder quer durch die DDR. Das haben wir uns alles erarbeitet, und das hat soviel Spaß gemacht, diese Gemeinsamkeit, das zu erarbeiten und das hinterher auch gemeinsam zu verprassen. Das war wirklich gut. Und das fehlt heute viel. "
Das Es-war-doch-nicht-alles-schlecht-Gefühl lebt so richtig auf zwischen Eisbechern, und Lampen, Urkunden und Abzeichen, Zeitungsausschnitten und Büchern. Die Taue der Erinnerung können sich hier festmachen.
Gästebuch: „Sehr beeindruckt und in eine andere Welt versetzt genießen wir Ihre angebotenen Getränke und wünschen, dass Sie zukünftig Glück haben in der Erweiterung und Erhaltung des Museums.
Thorsten und Matthias, Hamburg“
Auch die „von der anderen Seite“, wie es die Lehrerin ausdrückte, kommen in das Tutower Museum. Das fällt unter Völkerverständigung, meint der Museumschef und tut alles dafür, ganze Reisebusse in Richtung Vorpommern zu lenken. „Reise in die DDR“ heißt das Ganze dann und es gibt an einem solchen Tag immer ein besonderes Programm – mit DDR-Menü, DDR-Tanzmusik und DDR-Kabarett.
Spiegel: „Wir hatten einen Bus aus Schleswig-Holstein, den ersten. Sonst war immer Berlin, Rostock und Schwerin hier zu Gast. Und da habe ich doch sehr unruhig geschlafen. Weil ich dachte: Mann, jetzt kommen die Wessis hierher, wie nehmen die das überhaupt auf? Sagen sie, das ist alles Plunder hier? Also, ich war schon drauf gefasst, dass die Veranstaltung für die Leute, weil sie ja viele Artikel nicht mit den Augen sehen, wie der DDR-Bürger das sieht – dass die dann vielleicht nicht so begeistert sind. Und ich muss Ihnen sagen – bei den Ossis, sag ich mal, tobt um 16 Uhr der Saal. Alles freut sich und guckt, rennt rum, es wird sich viel angeguckt, Fragen werden gestellt, es wird getanzt – also, der Saal tobt. Bei den Leuten aus Schleswig-Holstein hat der Saal schon um 15 Uhr getobt. Die waren richtig happy und es hat ihnen richtig gut gefallen. Ich war natürlich sehr erleichtert und glücklich darüber, dass denen das so gut gefallen hat. "
Gästebuch: „Heute zum Herrentag wurde der Wirt unfreiwillig mit Westbesuch kontaktiert. Darum der Eintrag ins Hausbuch. Bitte weitergeben an den ABV.
Mit sozialistischem Gruß Paul und Reinhild Schöbel aus dem Ruhrgebiet“
Unbekümmert jongliert der Gästebuchschreiber aus dem Ruhrgebiet mit Begriffen wie „Hausbuch“ und „ABV“ – im Museum hat er gelernt, dass es in der DDR üblich war, jeden länger verweilenden Besuch in einem Hausbuch einzutragen, und dass der ABV der Polizist für ein Dorf oder einen Stadtteil war.
Spiegel: „Wir wollen den Rückblick in die Zeit als geschichtlichen Rückblick betrachten, wollen da auch eine Chronologie reinbringen, aber nicht in erster Linie eine politische Auseinandersetzung führen. Weil, es gibt so viel Stress in der Welt, warum müssen wir den auch noch machen? Es soll einfach schön sein. Es gibt viele Leute, die haben an die DDR gute Erinnerungen. Es gibt Leute, die politisch vielleicht verfolgt wurden. Diese Leute können sich ein und dasselbe Buch ansehen, aber können mit völlig unterschiedlichem Blickwinkel auf dieses Buch gucken. Und der eine sagt: Um Gottes willen, das ist ja ganz schlimm! Und der andere sagt: Mensch, da kann ich mich dran erinnern, das war ‚ne schöne Zeit. "
Das war eine schöne Zeit. Der Ostalgie-Effekt wirkt naturgemäß bei jenen besonders, denen das Ankommen in der neuen Gesellschaft nicht gelingt oder denen es verwehrt ist, bei jenen, die sich überflüssig vorkommen müssen. 60 bis 70 Prozent reale Arbeitslosigkeit, das Dorf von einem Drittel seiner Einwohner verlassen – das Damoklesschwert hängt nicht mehr drohend über der vorpommerschen Region, es ist schon längst herabgesaust.
Fünf Minuten vom DDR-Museum entfernt, in einem hübschen Haus an einem gepflegten Park, der gerade von zwei Ein-Euro-Job-Männern gefegt wird, ist Tutows Arbeitslosentreff. Ein paar Frauen sitzen bei Kaffee und selbstgebackenem Kuchen. Dass sie einmal dabei ist, hätte die 30-jährige Anja Melzer-Tews auch nie gedacht.
700 Tutower verließen schon ihre Heimat. Viele Wohnungen und Häuser stehen leer. „Tutow – dort wo Deutschland am Ende ist“ titelte eine Fernsehsendung. Seit dem Film ist im Dorf keiner mehr gut auf Journalisten zu sprechen.
Melzer-Tews: „Das Fernsehteam hat bestimmt ein gutes Jahr bei uns gedreht und hat sich auch sehr eingeschmeichelt im Dorf. Jeder konnte sie gut leiden, jeder kannte sie und sie waren auf allen Festlichkeiten und Feiern. Wir haben hier viele Freizeitaktivitäten, Sportvereine, Karnevalsclub, Feuerwehrverein, alle sind im Grunde organisiert. Und sie waren überall dabei. Letztendlich haben sich alle sehr auf den Film gefreut, der sollte 45 Minuten gehen. Und dann war nachts überall in Tutow noch Licht an, der Film kam erst nach 22 Uhr, und alle saßen gebannt vorm Bildschirm. Und dann kam im Grunde unsere Penner, die vorm Penny saßen und ihre Bierrunde machten und Neubaubauten, die abgerissen wurden. Und das war's – ‚ne dreiviertel Stunde lang! Es wurde nur der ehemalige Platz gezeigt. Aber wir haben auch ein sehr schönes Dorf. Natürlich war es die Wahrheit, die da gezeigt wurde, aber es war nur die halbe Wahrheit. Es gibt auch die schönen Seiten, warum wir hier sind, und die wurden total rausgeschnitten. Meine Schwester, die wohnt in Flensburg, und die hat allen ihren Kollegen gesagt: Mensch, Tutow kommt im Fernsehen, guckt doch mal! Und die hat nachts angerufen, und sie hat bitterlich geweint am Telefon und gesagt: Wenn die das gesehen haben, die denken, ich komme aus den letzten Slums.“
Alles, was Tutow trotz allem lebenswert macht, blenden die Medien gern aus, sagt die junge Frau und lobt die schöne Gegend, die Seen um die Ecke, die gute Autobahnanbindung, die Kinderbetreuung, die schönen und gepflegten Häuser jenseits des so genannten „Platzes“, des Plattenbaugebiets, die Vereine und Klubs, den Zusammenhalt in den Familien und im ganzen Dorf.
Auch Fred Spiegel und sein DDR-Museumsprojekt kamen nicht in dem Fernsehfilm vor. Kann ich mit leben, murmelt der Chef. Und weiß doch genau, dass seine meist zuversichtlichen Sätze eben einfach nicht gepasst haben, wenn man die Geschichte eines Dorfes, das am Ende ist, erzählen will. Aber genau mit diesem Ende will sich Fred Spiegel eben nicht abfinden.
Drin in der Gaststätte läuft endlos das Band mit den Pionierliedern. Die sie einst sangen, sitzen nun, Soljanka löffelnd, im Wechselbad der Gefühle da. Eine Frau um die 50 klappt das Gästebuch zu und legt den Stift daneben.
Gästebuch: „Ja, das war unsere Zeit. Wir wollen sie zwar so nicht mehr wieder haben, aber es war unser Leben. Barbara Vollbracht, Magdeburg“