Rettung vor dem sicheren Tod

06.01.2010
Der Name Oskar Schindler geht einem bei der Lektüre von Siegfried Jägendorfs Bericht "Das Wunder von Moghilev" nicht aus dem Kopf. Die Assoziation liegt nahe, ist aber teilweise falsch. Denn Jägendorf rettete nicht nur wie Schindler Juden unter Einsatz seines Lebens, er war auch selbst Jude. Er sollte sterben und bewahrte stattdessen etwa 10.000 Menschen vor dem sicheren Tod.
Der hochgewachsene, blauäugige Siegfried Jägendorf wird als Schmiel Jägendorf in der nördlichen Bukowina geboren. Er studiert an der Technischen Hochschule Mittweida bei Dresden, dient in der österreichischen Armee und wird nach dem Ersten Weltkrieg Direktor der Siemens-Schuckert-Werke in Czernowitz. Nach einem Jahr macht er sich selbstständig, bleibt jedoch ohne Fortune.

1938 glückt ihm nach dem sogenannten "Anschluss" Österreichs die Flucht aus Wien nach Rumänien. Seine Töchter emigrieren, Jägendorf und seiner Frau misslingt die Flucht aus Rumänien. Im Herbst 1941 werden nach Pogromen mit zehntausenden Toten etwa 150.000 Juden der nördlichen Provinzen Rumäniens nach Transnistrien verbannt, eine Region der westlichen Ukraine, die Hitler den Verbündeten überlassen hat. Mehrmals werden die Deportierten in den überfüllten Viehwaggons ausgeraubt. Jägendorf und seine Frau überleben die Fahrt und gelangen nach Moghilev. Von hier sollen die Juden in Lager geschickt werden, die es trotz der sinkenden Temperaturen noch nicht gibt. Jeder hat den Tod vor Augen.

Siegfried Jägendorf sucht mit einem Brief, der ihn als ehemaligen Direktor der Siemens-Schuckert-Werke ausweist, den deutschen Kommandanten und den rumänischen Präfekten auf. Er verspricht die Reparatur des zerstörten Elektrizitätswerkes und erwirkt dafür die Aufenthaltserlaubnis für vier oder fünf jüdische Techniker. Einen Tag später überreicht Jägendorf eine Liste mit 116 Namen, Monate später dirigiert der Direktor in der einst "judenfreien" Stadt eine zehntausendköpfige Schar von jüdischen Arbeitern, die eigene Küchen mit einer täglichen Mahlzeit versorgen.

Die ungeheuren Schwierigkeiten dieser Rettungstat hat Jägendorf Jahre nach seiner Rückkehr aus Moghilev 1944 schriftlich festgehalten. Der Bericht ist erst 21 Jahre nach seinem Tod 1970 in den USA publiziert worden, zusammen mit einem Kommentar des Publizisten Aron Hirt-Manheimer, und liegt jetzt auf Deutsch vor.

Der Direktor schildert sein tägliches, lebensgefährliches Aushandeln des Überlebensfreiraums eher zurückhaltend. Den Mördern und Räubern in deutschen und rumänischen Staatsdiensten malt er die Vorzüge der Industrieproduktion durch Juden aus und mäßigt die entstehenden Gelüste zugleich. Die eigenen Leute hindert Jägendorf im Interesse aller daran, sich durch Diebstahl und Eigenproduktion vor dem drohenden Hungertod zu retten. Der Direktor regiert wie ein Patriarch: tatkräftig, umsichtig, autoritär. Dank seines Einsatzes überleben in Moghilev 70 bis 80 Prozent der Deportierten, im übrigen Transnistrien sind es nur 20 bis 30 Prozent.

Ungläubig liest man diesen Bericht, in der eine machtbewusste Intelligenz einen mörderischen Antisemitismus bremst, indem sie sich Gier und Scham, Korruption und Pragmatismus der Antisemiten zunutze macht. Aron Hirt-Manheimer bettet das Geschehen in die europäische und rumänische Geschichte ein und ergänzt den Bericht durch die Stimmen anderer Überlebender. Die moralischen Abgründe mancher Situationen, von Jägendorf im Halbdunkel belassen, erhellt er nicht. So bleibt "Das Wunder von Moghilev" eine unglaubliche Geschichte über einen, der sich und seine Leidensgenossen am eigenen Schopf aus dem Massengrab zog.
Besprochen von Jörg Plath

Siegfried Jägendorf: Das Wunder von Moghilev. Die Rettung von zehntausend Juden vor dem rumänischen Holocaust
Herausgegeben und kommentiert von Aron Hirt-Manheimer
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ulrike Döpfer
Transit Buchverlag, Berlin 2009
206 Seiten, 18,80 Euro