Rettung von Kulturgut durch Schockfrosten

Thomas Klinke im Gespräch mit Katrin Heise · 09.03.2009
Thomas Klinke, Restaurator vom Kölner Wallraf-Richartz-Museum, arbeitet an der Unglücksstelle mit den Rettungskräften Hand in Hand. Auch wenn derzeit die Suche nach dem Vermissten im Vordergrund steht, ist ihm die Betroffenheit über den Verlust wertvollen Archivmaterials deutlich anzumerken. Für durchnässte Dokumente könnte nach seiner Einschätzung das schnelle Einfrieren eine Rettung sein.
Katrin Heise: Fast eine Woche ist inzwischen vergangen, seitdem das Kölner Stadtarchiv und zwei Nachbarhäuser sozusagen im Untergrund verschwanden und einen riesigen Schuttberg zurückließen. Die Arbeiten am Unglücksort verzögerten sich wetterbedingt und wegen Einsturzgefährdung immer weiter. Zurzeit steht die Suche nach der vermissten Person im Vordergrund. Die Archivbestände sollen später weiter geborgen werden. Am Telefon begrüße ich Thomas Klinke. Er ist Restaurator am Kölner Wallraf-Richartz-Museum, auch die Bestände dieses Museums waren im Stadtarchiv untergebracht. Herr Klinke, ich grüße Sie!

Thomas Klinke: Ja, guten Morgen, Frau Heise!

Heise: Sie haben sich sicherlich ein Bild von der Unglücksstelle machen können und sind dort auch häufiger?

Klinke: Ja, das ist richtig. Ich war zuletzt am Samstagvormittag an der Unglücksstelle und habe mich in der Nacht von Samstag auf Sonntag auch davon überzeugen können, dass bereits erste Archivalien und Kulturgüter geborgen werden konnten. Und, ja, das Ganze lässt sich also schwer in einem Satz zusammenfassen. Die Empfindungen für mich als Restaurator dabei sind sehr indifferent, möchte ich sagen. Ich bin es ja gewohnt, mit Kulturgut umzugehen, in geborgenen Räumen, in Schutzräumen, in klimatisierten Räumen bei höchster Sicherheitsstufe. Und jetzt erlebe ich es, dass kostbares Kulturgut in Trümmern liegt, teilweise regelrecht zerfetzt, beschädigt durch Steinschlag, durch allerlei Dreck und Einflüsse von außen, unter freiem Himmel. Wir hatten ja extrem schlechtes Wetter letzte Woche in Köln, es hat ergiebige Regenfälle gegeben.

Heise: Man sah immer die Planen über die Unglücksstelle gespannt.

Klinke: Ja, das war also eine erste Notmaßnahme. Inzwischen sind die Einsatzkräfte damit beschäftigt, ein großformatiges Dach in Leichtbauweise zu errichten. Und dieses Dach kann uns als Beruhigung dienen, denn es geht unbedingt darum, weitere Regenfälle dieser Baustelle fernzuhalten.

Heise: Sie sind da selber – haben Sie mir auch gesagt – sozusagen in einem Einsatz. Wie muss man sich das vorstellen? Da sind zahlreiche Archivare, Restauratoren, die allerdings nicht auf die Trümmer gehen dürfen, sondern dann die geborgenen Dinge ausgehändigt bekommen?

Klinke: Ja. Also zunächst müsste ich sagen, die Bergung der mutmaßlichen zwei Opfer hat absolute Priorität, das ist auch an der Baustelle zu spüren. Und die Kulturgüter, die bislang geborgen werden konnten, sind ausschließlich jene, die in den Bereichen, wo man die Verschütteten vermutet, konnten die dort geborgen werden, nur dort. Und das ist auch völlig richtig so. Auch wir Restauratoren fühlen natürlich sehr mit den Hinterbliebenen der Opfer. Das darf also nicht außer Acht kommen. Es ist so, dass die Zugänge zur Baustelle nach wie vor sehr schwierig sind. Also es gibt im nördlichen Bereich und im südlichen Bereich dieses Unglücksortes sehr schmale Zugänge. Man hat sich beispielsweise im nördlichen Bereich, dort, wo auch jetzt nach den Verschütteten gesucht wird, einen künstlichen Zugang verschaffen müssen über den Hinterhof eines Gebäudes einer angrenzenden Straße. Dort können also immer auch nur kleine Gruppen von Personen arbeiten, weil einfach gar nicht mehr Platz zur Verfügung steht. Und es sieht also so aus, dass die Feuerwehrkräfte dann wirklich mit bloßen Händen einzelne Archivalien aus den Trümmern holen, soweit sie das erkennen können. Und es wird eine Kette gebildet, die Feuerwehrkräfte reichen diese Kulturgüter weiter. Und dann steht eine Gruppe von Restauratoren vor Ort, die schon einmal grob vorsondiert. Es stehen Rollcontainer bereit, es stehen unzählige Pappkartons bereit, und es kann eine grobe Sortierung vorgenommen werden. Und dann werden diese Fundstücke weitergeleitet an einen Ort, wo sehr viel mehr Platz zur Verfügung steht zum einen und sehr viel mehr Hilfskräfte auch zur Verfügung stehen.

Heise: Was macht man als Erstes, wenn man diese Dinge in die Hände bekommt?

Klinke: Ja, also im Moment kann es tatsächlich nur um allererste Notfallmaßnahmen gehen, denn es ist ja so, wir dürfen einfach noch gar nicht an die Restaurierung denken. Bei den Beständen des Historischen Archivs der Stadt Köln handelt es sich – ich möchte Neudeutsch sagen – um einen echten Multimediamix. Wir haben dort sowohl alte Handschriften, wertvollste Urkunden auf Pergament. Wir haben natürlich unzählige Mengen an Papier, aber auch an Fotografien. Also die ganze Geschichte der Fotografie ist dort abgebildet. Es gibt Papierabzüge, es gibt Negative, es gibt Glasnegative, sehr empfindliche. Es gibt Tonbänder, seltenes Siegelmaterial. Und allein dieser Mix an verschiedenen Materialien, der macht es auch so schwierig, jetzt eine Pauschalmaßnahme zu veranlassen. Das Wichtigste ist also, erst mal zu sondieren, zu trennen auch die verschiedenen Medien und erst dann zu entscheiden, wie man weiter mit ihnen verfährt.

Heise: Was wird aus den geborgenen Beständen des Kölner Stadtarchivs? Dazu hören Sie im Deutschlandradio Kultur den Restaurator Thomas Klinke vom Wallraf-Richartz-Museum. Das Museum hatte auch Bestände im Stadtarchiv untergebracht. Was genau ist dort in Gefahr?

Klinke: Also in Gefahr ist eigentlich, man muss unterscheiden – es gibt zum einen den kompletten Nachlass unseres Museumsstifters Ferdinand Franz Wallraf. Der Nachlass besteht also aus alten Inventaren, aus Korrespondenzen, Findbüchern oder Entwürfen von Aufsätzen, aber auch aus Dingen, die Wallraf selber gesammelt hat. Wallraf war ja einer der Urväter der Kölner Museumssammlungen, kann man sagen. Und er hat also auch Kulturgut gesammelt, man kann sagen wie wild, allerlei Kulturgüter, von Handschriften bis hin zu alten Siegeln, Urkunden, Fossilien. Diese sind Gott sei Dank auch auf andere Kölner Museumssammlungen verteilt. Aber was für uns natürlich besonders schmerzlich ist, ist, dass wir die alten Originalinventare seiner Kunstsammlungen im Historischen Archiv der Stadt Köln hatten. Und diese sind jetzt vermutlich mindestens stark beschädigt. Bei uns im Museum existieren also nur moderne Kopien davon, die leider nicht dem Original gleichzusetzen sind, weil sie einfach nicht so gut zu lesen sind und inzwischen auch schon wieder einige Jahre auf dem Buckel haben.

Heise: Sie haben eben beschrieben, dass momentan nur an Sondierung gedacht werden kann, die einzelnen Materialien eben zum Beispiel nach was ist Film, was ist Dokument auseinandersortieren. Was wird dann gemacht, wenn man tatsächlich an die Restaurierung geht? Wenn man sich jetzt vorstellt, das sind ganz nasse, vielleicht schon angeschimmelte, jetzt inzwischen angeschimmelte Papiere?

Klinke: Ja, genau. Also es ist ja so, dass wir das Problem des Wassereintrags von oben durch den Regen – das hatte ich schon erwähnt – haben und zum anderen müssen wir damit rechnen, da wir wissen, dass das Archivgebäude komplett in die Baugrube eingesunken ist und dann erst gekippt, ein Großteil der Mengen des Archivs in den Tiefen des Grundwassers versunken ist. Ich habe mir das in einem Gespräch mit einem Feuerwehrmann noch mal bestätigen lassen. Die Situation im Schacht sieht also so aus, dass man auf regelrechte Pressschichten trifft. Das heißt, wenn wir im Moment Kulturgüter bergen, dann ist das freilich ein anderer Fall. Es sind Dinge, die aus dem vierten bis sechsten Obergeschoss stammen. Es ist überraschend, dass da einige Dinge bereits zutage treten, die noch in einem vergleichsweise guten Zustand sind. Ich habe also ein gutes Dutzend, mehrere Dutzend kann ich sagen, mittelalterliche Handschriften selber in der Hand gehabt, die in einem vergleichsweise guten Zustand vorliegen, die noch nicht mal zu Wasserschäden geworden sind. Das ist also wirklich eine gute Nachricht in dieser traurigen Zeit. Und wir werden, je tiefer man jetzt mit der Bergung voranschreitet, damit rechnen müssen, dass in den Tiefen des Archivs dann wirklich es zu ganz schweren Verbackungen von Trümmer, Schutt, Verschmutzungen und eben kostbarem Archivgut gekommen ist. Und das sind für uns natürlich die größeren Probleme. Wir sind darauf vorbereitet, diese stark durchnässten Kulturgüter schnellstmöglich in eine sogenannte Schockfrostung zu geben. Das sind also große Gefrieranlagen, in denen man auch beispielsweise Lebensmittel aufbewahren kann. Das muss deshalb gemacht werden, einfach weil die Gefahr des Schimmelpilzwachstums sehr groß ist. Die Archivbestände bestehen ja zu – na, ich möchte sagen – 90 Prozent aus organischem Material. Dieses organische Material ist idealer Nährboden für Mikroorganismen, Pilze. Und wenn man nicht schnell interveniert in einem solchen Fall, dann ist das Wachstum von Pilzen unvermeidlich und es tritt sozusagen ein zweiter Teil des Schadens ein, der fast wiederum dann noch unwiederbringlicher ist als der erste Teil.

Heise: Kann man diese Rettungsarbeiten, die Sie da vermuten, die da auf Sie zukommen, die Restaurierungsarbeiten – die Direktorin des Archivs sprach übrigens von 20 bis 30 Jahren, die sie da so jetzt grob mal veranschlagt –, kann man eigentlich mit denen der Anna-Amalia-Bibliothek vergleichen, wo die Bestände durch Feuer und Löschwasser zerstört wurden?

Klinke: Ja, gut, also in puncto Löschwasser kann ich mir das gut vorstellen, da ist der Vergleich zulässig, was den Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln betrifft, da hatten wir ja Gott sei Dank keinen Brandschaden zu beklagen. Brandschäden an Papieren und alten Büchern sind natürlich vollkommen irreversibel. Was einmal verbrannt ist, lässt sich nicht wieder herstellen. Bei Wasserschäden sieht es ein bisschen anders aus. Wir haben also größtenteils Probleme mit verlaufenden Tuschen und Tinten oder auch Deckmalereien auf illuminierten Handschriften. Das sind Dinge, die lassen sich zumindest auch mit naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethoden wieder zumindest sichtbar machen und interpretierbar machen.

Heise: Und dann haben Sie eben die verschiedenen Materialien jetzt in Köln, die da verlorengegangen sind oder eben auf jeden Fall beschädigt.

Klinke: Genau, genau.

Heise: Thomas Klinke, Restaurator im Kölner Wallraf-Richartz-Museum, über den Stand und die Möglichkeiten der Rettung der Dokumente nach dem Zusammenbruch des Kölner Stadtarchivs. Herr Klinke, ich danke Ihnen sehr für die Informationen!

Klinke: Ich danke Ihnen, Frau Heise!