Rette uns, wer kann
Noch nie wurde landauf, landab so hemmungslos viel Wagner gespielt und gesungen wie heute – und noch nie hat man dabei einen so schamlosen Ausverkauf der stimmlichen Ressourcen und öffentlichen Mittel betrieben.
Jedes Stadttheater, pardon, bildet sich heute ein, einen eigenen „Ring“ haben zu müssen, ganz egal, ob die architektonischen und akustischen Gegebenheiten dies überhaupt zulassen, ob die hauseigenen Orchester groß genug sind und vor allem Sänger vorhanden, denen man die hochdramatischen Partien eines Siegfried oder einer Brünnhilde wirklich anvertrauen dürfte, wollte und auch sollte.
Die Folgen sind verheerend: Die Kassen werden geplündert, und junge, viel versprechende Stimmen verheizt – alles andere wäre nämlich schon gar nicht bezahlbar. Wann, wenn nicht jetzt, scheinen sich Intendanten und Kommunalpolitiker zwischen Karlstad, Weimar, Straßburg und Seattle zu sagen: Ein so fettes Jubiläum wie 2013 schneit uns so bald nicht wieder ins Haus. Ein Wunder, dass die Seefestspiele in Mörbisch noch nicht auf diesen Zug aufgesprungen sind.
Dabei ist das Bedürfnis nach einem eigenen „Ring“ und nach noch mehr Wagner sogar legitim. Denn Richard Wagner genießt eine geradezu unheimliche mediale Präsenz. Live-Streamings, Video-Blogs, Podcasts – von den guten, alten Festspiel-Übertragungen im Radio ganz zu schweigen – die Großen machen es vor, und die Kleinen denken, das können wir auch, das wollen wir auch!
Wobei das Internet leider nichts vergisst: Die Masse an fehlerhaftem Ungenügen im Wagner-Fach, die da über unsere Datenautobahnen gejagt wird, senkt nicht nur das Niveau, sondern nimmt dem Nachwuchs über kurz oder lang alle Versagensängste. Ein fataler Reflex. Wenn die Heroine X und der Heldentenor Y sich dieses oder jenes offenbar leisten können, dann ist es mit der Qualität wohl nicht mehr weit her.
Es drängt sich die Frage auf nach der Henne und dem Ei: Wo fängt so etwas wie Niveauverlust an? In der Provinz, wo falsche Vorbilder gehandelt werden und die Jungen die Partien nach CDs lernen? An den Tophäusern, wo niemand mehr etwas von Stimmen wirklich versteht? Vielleicht gehören hier statt Hennen und Eiern vor allem die Hühnerstallbesitzer ins Visier: Die Intendanten, Dirigenten und Hochschulprofessoren, die sich gewiss sein können, dass die Quellen immer neuer Stimmen nicht versiegen, zumal aus dem Osten nicht, aus Asien nicht, und die in einer Weise mit dem ihnen anvertrauten Menschenmaterial aasen, die absolut unverzeihlich ist.
Früher belief sich die durchschnittliche Verweildauer eines Interpreten im dramatischen Fach auf 20 bis 25 Jahre; heute, im Zeitalter des musikalischen Jetsets, sind es, wenn es hoch kommt, 7 bis 10. Tendenz: weiter fallend. Auch die Politik trägt zu dieser Misere eine Menge bei; in Zeiten der Krise kommt ihr der repräsentative Glanz der alten Oper gerade recht: Das blendet und tröstet so schön.
Noch nie war unser Umgang mit Wagner so inflationär – und noch nie so mittelmäßig. Mit einer Wagner-Quote ist diesem Missstand natürlich nicht beizukommen – von wegen nur Häuser einer bestimmten Größe und eines bestimmten Renommées sollten den „Ring“ überhaupt spielen, und wer ihn unbedingt sehen und hören möchte, der muss dann eben nach Berlin, München oder Wien fahren. Das hat zuletzt Cosima Wagner versucht, mit dem bis 1913 gültigen Verdikt, der „Parsifal“ dürfe nur in Bayreuth aufgeführt werden.
Es geht hier nicht um Privilegien oder um die Macht der ohnehin Stärkeren; es geht um eine Exklusivität, die den Anforderungen des Notentextes entspringt und einer großen, reichen Tradition. Wäre es nicht eine tolle Utopie, Wagners „Ring“ in Zukunft nur dann noch auf den Spielplan zu setzen, wenn er sich auch guten, reinen Gewissens besetzen lässt? Dieses Gewissen nicht ganz zu vergessen und zu verlieren, wäre für Richard Wagner in zwei Jahren zweifellos das schönste Geburtstagsgeschenk.
Christine Lemke-Matwey, Musikkritikerin und Redakteurin beim Berliner „Tagesspiegel“. Schreibt auch regelmäßig für die Wochenzeitung „Die Zeit“.
Die Folgen sind verheerend: Die Kassen werden geplündert, und junge, viel versprechende Stimmen verheizt – alles andere wäre nämlich schon gar nicht bezahlbar. Wann, wenn nicht jetzt, scheinen sich Intendanten und Kommunalpolitiker zwischen Karlstad, Weimar, Straßburg und Seattle zu sagen: Ein so fettes Jubiläum wie 2013 schneit uns so bald nicht wieder ins Haus. Ein Wunder, dass die Seefestspiele in Mörbisch noch nicht auf diesen Zug aufgesprungen sind.
Dabei ist das Bedürfnis nach einem eigenen „Ring“ und nach noch mehr Wagner sogar legitim. Denn Richard Wagner genießt eine geradezu unheimliche mediale Präsenz. Live-Streamings, Video-Blogs, Podcasts – von den guten, alten Festspiel-Übertragungen im Radio ganz zu schweigen – die Großen machen es vor, und die Kleinen denken, das können wir auch, das wollen wir auch!
Wobei das Internet leider nichts vergisst: Die Masse an fehlerhaftem Ungenügen im Wagner-Fach, die da über unsere Datenautobahnen gejagt wird, senkt nicht nur das Niveau, sondern nimmt dem Nachwuchs über kurz oder lang alle Versagensängste. Ein fataler Reflex. Wenn die Heroine X und der Heldentenor Y sich dieses oder jenes offenbar leisten können, dann ist es mit der Qualität wohl nicht mehr weit her.
Es drängt sich die Frage auf nach der Henne und dem Ei: Wo fängt so etwas wie Niveauverlust an? In der Provinz, wo falsche Vorbilder gehandelt werden und die Jungen die Partien nach CDs lernen? An den Tophäusern, wo niemand mehr etwas von Stimmen wirklich versteht? Vielleicht gehören hier statt Hennen und Eiern vor allem die Hühnerstallbesitzer ins Visier: Die Intendanten, Dirigenten und Hochschulprofessoren, die sich gewiss sein können, dass die Quellen immer neuer Stimmen nicht versiegen, zumal aus dem Osten nicht, aus Asien nicht, und die in einer Weise mit dem ihnen anvertrauten Menschenmaterial aasen, die absolut unverzeihlich ist.
Früher belief sich die durchschnittliche Verweildauer eines Interpreten im dramatischen Fach auf 20 bis 25 Jahre; heute, im Zeitalter des musikalischen Jetsets, sind es, wenn es hoch kommt, 7 bis 10. Tendenz: weiter fallend. Auch die Politik trägt zu dieser Misere eine Menge bei; in Zeiten der Krise kommt ihr der repräsentative Glanz der alten Oper gerade recht: Das blendet und tröstet so schön.
Noch nie war unser Umgang mit Wagner so inflationär – und noch nie so mittelmäßig. Mit einer Wagner-Quote ist diesem Missstand natürlich nicht beizukommen – von wegen nur Häuser einer bestimmten Größe und eines bestimmten Renommées sollten den „Ring“ überhaupt spielen, und wer ihn unbedingt sehen und hören möchte, der muss dann eben nach Berlin, München oder Wien fahren. Das hat zuletzt Cosima Wagner versucht, mit dem bis 1913 gültigen Verdikt, der „Parsifal“ dürfe nur in Bayreuth aufgeführt werden.
Es geht hier nicht um Privilegien oder um die Macht der ohnehin Stärkeren; es geht um eine Exklusivität, die den Anforderungen des Notentextes entspringt und einer großen, reichen Tradition. Wäre es nicht eine tolle Utopie, Wagners „Ring“ in Zukunft nur dann noch auf den Spielplan zu setzen, wenn er sich auch guten, reinen Gewissens besetzen lässt? Dieses Gewissen nicht ganz zu vergessen und zu verlieren, wäre für Richard Wagner in zwei Jahren zweifellos das schönste Geburtstagsgeschenk.
Christine Lemke-Matwey, Musikkritikerin und Redakteurin beim Berliner „Tagesspiegel“. Schreibt auch regelmäßig für die Wochenzeitung „Die Zeit“.