Retrospektive zu Alberto Lattuada

Geburtshelfer des italienischen Nachkriegsfilms

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Der italienische Regisseur Alberto Lattuada mit Schauspielerin Stefania Careddu bei Dreharbeiten in Sizilien 1967.
In Italien gilt Alberto Lattuada als einer der wichtigsten Nachkriegsregisseure. © imago images / UIG
Patrick Wellinski im Gespräch mit Vladimir Balzer · 10.08.2021
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Er ist so etwas wie der Vater des italienischen Neorealismus und entdeckte und förderte Fellini und Rossellini. Trotzdem war Alberto Lattuada international nur wenig bekannt. Das könnte eine große Retrospektive in Locarno jetzt ändern.
"Alberto Lattuada war in Italien ein wichtiger Name, eine Art Lehrer und Mentor von Autorenfilmern wie Michelangelo Antonioni, Federico Fellini und Roberto Rossellini", sagt der Filmexperte Patrick Wellinski.
Doch im Gegensatz zu diesen Regisseuren sei Lattuada dem internationalen Publikum fast unbekannt geblieben. Das habe vor allem daran gelegen, dass ihn die großen Filmfestivals in den 1960er-Jahren "schon ziemlich ignoriert" haben, meint Wellinski.
Der italienische Regisseur am Rande der Filmfestspiele in Venedig 1983.
Lange Zeit bekam der italienische Nachkriegsregisseur wenig Beachtung durch die internationale Filmszene, wie hier am Rande der Filmfestspiele in Venedig 1983.© imago images / Leemage
Doch 15 Jahre nach seinem Tod sei die Zeit gekommen, sich mit seinem "eklektischen Werk" auseinanderzusetzen. Die Möglichkeit besteht jetzt bei den Filmfestspielen in Locarno, denn die widmen ihm eine große Retrospektive.

Rossellini geholfen, Fellini entdeckt

Alberto Lattuada wurde 1914 in Mailand geboren. Er war Sohn des Komponisten Felice Lattuada und hat Architektur studiert. Als Jugendlicher und Heranwachsender erlebte er den Faschismus in Italien.
Er habe die Ideologie verabscheut, meint Wellinski. Deswegen habe er sich während des Zweiten Weltkriegs einer antifaschistischen Gruppe angeschlossen. Noch während des Kriegs begann er, als Drehbuchautor und Regisseur zu arbeiten. Sein erster Film "Giacomo L’idealista" erschien 1943, seinen zweiten konnte er nicht fertigstellen, weil er in den Untergrund musste.
Wellinski ist der Überzeugung, Lattuada habe das italienische Nachkriegskino nicht nur beeinflusst, sondern er habe es sogar nach dem Zweiten Weltkrieg mit aufgebaut. Er sei einer der wichtigsten Personen des Genres.
"Nach dem Krieg war für ihn klar, welche Themen im Kino vorrangig sein müssen. Es ging um Armut, Rassismus, Ungleichheit im Nachkriegsitalien", sagt der Filmexperte, "Und damit wurde er zum Geburtshelfer dieses berühmten italienischen Neorealismus".
Außerdem habe er Rossellini geholfen, habe Fellini entdeckt und sei durch ebendiese Entdeckungen selbst "ein bisschen in Vergessenheit geraten".

Politische Publikumsfilme

Dabei habe Lattuada niemals den gleichen Streifen gedreht. "Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich jeder Film in Ton, Form und Inhalt vom Vorangegangenen ist", meint Wellinski.
In "Senza Pietà" ("Ohne Gnade") von 1948 geht es um eine italienische Prostituierte, die mit einem schwarzen US-Marine flieht. Dieses Paar wird sehr unterschiedlich durch die Konventionen der Zeit getrieben und sprengen diese dann sogar.
Man sieht die vom Krieg zerstörte Stadt Livorno und dort geht es durch die dunklen Straßen. Trotzdem sei der Film eingebettet in den amerikanischen Abenteuerfilm, wodurch er unterhaltsam sei, findet Wellinski.
"La spiaggia" ("Der Skandal") hingegen untersucht "die Heuchelei der sogenannten ehrenwerten Gesellschaft Italiens" und zeigt, wie eine edle Prostituierte mit ihrer Tochter Sommerurlaub am Meer macht, aber dann doch von den Gästen wie eine Hexe verjagt wird, nachdem sie erfahren, wer diese Frau ist. Der Film sei keinesfalls als moralisches Drama inszeniert, sondern als Sommerkomödie, mit viel Tourismusalltag.
Dreharbeiten zum Film "La Spiaggia" des italienischen Regisseurs Alberto Lattuada. Eine Darstellerin liegt am Strand.
Dreharbeiten zum Film "La Spiaggia" des italienischen Regisseurs Alberto Lattuada. Eine Darstellerin liegt am Strand.© imago images / United Archives
Besonders an "La spiaggia" sehe man, dass Lattuada Publikumserfolg wichtig gewesen sei. Der Film war in Italien 1954 ein Kassenschlager. Lattuada sei nicht wichtig gewesen, als intellektueller Regisseur wahrgenommen zu werden, dessen Filme schwer verdaulich sind.
"Nein, er wollte Geld einspielen mit seinen Werken", so Wellinski weiter, "Er hat politisches Unterhaltungskino gemacht, so wie wir uns das heute vielleicht sogar wünschen würden."

Die Prostituierte als selbstbestimmte Figur

Und immer haben in seinem Filmen die Frauen im Fokus gestanden. In der Nachkriegsgesellschaft Italiens sei die Frau entweder von der Kirche als fromme Hausmutter stilisiert worden oder durch die kommunistische Partei als Mutter der Revolution.
Aus diesem Schema brach Lattuada aus und hat erstaunlich komplexe, vielschichtige Protagonistinnen erschaffen.
Vor allem die Figur der Prostituierten habe der Regisseur als eine Form der Selbstständigkeit gesehen, die sich allen Vorstellungen entzogen habe. "Selbstbestimmtes weibliches sexuelles Erwachen" habe er immer wieder als "politische Emanzipation" verstanden.
So habe er dadurch auch die Schauspielerinnen Cathrine Spaak, Clio Goldsmith und auch Nastassja Kinski entdeckt.

Die Zensur ausgetrickst

In der Schaffenszeit von Lattuada waren das Themen und Fragen, die von den italienischen Zensurbehörden gerne eingeschränkt wurden. Doch mit einem Trick sei er durchgekommen. Er habe fast immer Literatur verfilmt, "also obskure Kurzgeschichten". Das habe ihm gereicht, um durch die Zensur zu kommen, weil er behaupten konnte, es handele sich schließlich um Literatur.
Das habe er genutzt, um inhaltlich Kritik an der italienischen Gesellschaft durchzusetzen. "Das finde ich einen sehr intelligenten Zugang, der eben nicht durch die Form geht, sondern durch den Inhalt", sagt Wellinski.
Das Interesse an einer so wichtigen Person wie Lattuada sei dementsprechend auf den Filmfestspielen in Locarno riesengroß. "Er ist auch ein bisschen ein Local Hero, der Lattuada."
(sbd)
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