Respektlose Aneignung dramatischer Weltliteratur

Von Volker Trauth · 16.06.2011
Der 34-jährige Schweizer Roger Vontobel ist einer der interessantesten Theaterleuten seiner Generation. Auch seine neueste Inszenierung im Schauspielhaus Bochum fällt durch einen ganz eigenwilligen ästhetischen Zugriff auf das Stück auf.
Der 34-jährige Schweizer Roger Vontobel gehört ohne Zweifel zu den interessantesten Theaterleuten seiner Generation. Immer wieder ist er in Erscheinung getreten durch seine respektlosen Aneignungen der "großen Brocken" der dramatischen Weltliteratur. Seine Inszenierungen von "Käthchen von Heilbronn", "Macbeth" oder "Don Carlos" fielen auf durch einen ganz eigenwilligen ästhetischen Zugriff auf das Stück und eine Textfassung, die auf ein Spannungsverhältnis zwischen Stückbotschaft und Gegenwart zielt.

So auch bei seiner neuesten Arbeit. Zusammen mit seiner Dramaturgin Anna Haas hat der das Schillerstück angereichert mit Texten aus den Prozessakten von 1431 (der Verurteilung der Heldin Johanna zum Tod auf dem Scheiterhaufen) und von 1456 (der Revision des Urteils). Vom Verlauf des Abends her sehen wir zunächst Johanna, wie sie sich am Mikrofon mit wehmütigem Gestus von ihren Bergen und Triften verabschiedet. Dann schon marschiert eine Armada von Anklägern in lila Roben auf. Solistisch oder im Chor peitschen die sich im göttlichen Auftrag Wähnende verbal nieder. Dann aber schälen sich aus den lila Roben einige der Figuren, die Johannas Weg begleitet haben, die sie zur Märtyrerin stilisiert und schließlich geopfert haben.

Dem jungen Bertrand, der den drohenden Untergang von Orleans verkündet, folgt Vater Thibaut mit seiner Bezichtigung der Zauberei und schließlich die Feldherren und Würdenträger von beiden Seiten der Front. Da die englischen und die französischen Repräsentanten von den gleichen Schauspielern gespielt werden, entsteht der Eindruck der Austauschbarkeit von Machtstrategien. Hier wie da werden schäbige Zweckbündnisse geschmiedet, nur das Hirtenmädchen Johanna agiert aus zweckfreiem Antrieb. Am Ende kehrt das Geschehen in den Gerichtssaal zurück. Johanna wird erst zum Tode verurteilt und dann zur Heldin gestempelt - und der von ihr gerettete König Karl vom Vorwurf freigesprochen, seine Macht einer Hexe zu verdanken. Der Reiz solcher Textanordnung: Vor dem geistigen Auge Johannas läuft ein Film ab, von dem sie nicht mehr glauben kann, ihn wirklich erlebt zu haben.

Lena Schwarz spielt die Johanna. Sie versucht nicht, die Figur auf eine einzige Seite ihres Charakters zu trimmen, führt sie vielmehr in all ihren Brüchen und Wandlungen vor, die sich je nach Perspektive des Betrachters verändern. Um diese Vielgestaltigkeit anschaulich machen zu können, steht der Schauspielerin ein hohes Maß an Differenzierungsfähigkeit zur Verfügung. Wie auf weiter Ferne flüstert sie die Gedanken über den Abschied von den heimatlichen Bergen, sachlich, fast geschäftsmäßig erläutert sie dem Verlierer Karl ihren göttlichen Auftrag, zur Furie wird sie, wenn sie den jungen Engländer Montgomery nicht im Kampf der Schwerter erledigt, sondern mit einer Mikrofonschnur erdrosselt, als fanatische Gotteskriegerin ruft sie zum Kampf bis zum bitteren Ende auf und zum Schluss erklärt sie ganz unheldisch eher trotzig, dass sie ihre Meinung nicht ändern werde - eine preisverdächtige Leistung.

Im Schauspielerischen allerdings liegt auch der Schwachpunkt der Inszenierung. In den textlich stark eingedampften Splitterauftritten gelingt es nur wenigen Darstellern, ihren Figuren Eigenleben einzuhauchen. Wenn beispielsweise der Darsteller des Karl auch noch dessen Mutter Isabeau vorzuführen versucht und nach einem Lustgespielen ruft, rutscht das Ganze in die unfreiwillige Komik. Aufhorchen lässt neben der Hauptdarstellerin allerdings noch Klaus Weiss als der Vater Thibaut. Da ist nicht nur religiöse Verstocktheit, sondern auch unendlicher Schmerz, darüber, dass er die eigene Tochter opfern muss.