Requiem auf den Fortschritt

Von Tobi Müller · 13.07.2013
Gemeinsam mit dem britischen Dokumentarfilmer Adam Curtis hat die Band Massive Attack ein Filmkonzert mit historischen Bildmontagen entworfen. Premiere war in Manchester, Ende August zeigt die Ruhrtriennale das außergewöhnliche Projekt in Duisburg.
Irre, was in Manchester auf engem Raum nebeneinander steht. Viel neue, tolle Architektur, auch für öffentliche Gebäude. Dann aber auch die sichtbaren Spuren der ersten Industriestadt der Welt: Roter Backstein, nicht immer saniert. Neben dem ehemaligen Mayfield Bahndepot stehen alte Skinheads vor ihrem Pub und trinken Bier - es sind soweit friedliche Gestalten, Oi Skins, keine Neonazis. Aber aus der Zeit gefallen wie die heruntergekommene Halle nebenan, in der Massive Attack und Adam Curtis ihr titelloses Totalspektakel aufführen. Auch in diesen aufregenden, politisierten, plakativen und doch immer wieder plausiblen 90 Minuten geht es um den Clash zweier Zeiten. Mindestens. Vielleicht geht es auch um alles.

Elf identisch große Leinwände markieren ein Oval, das Publikum steht mitten drin. Der Abend beginnt als Film und etabliert, angelsächsisch klar, die Methode: Es ist ein Bilderreigen aus Archivaufnahmen, eine Montage großer Ereignisse mit den Geschichten Einzelner, eine Collage mit Off-Kommentar und Schriften. Der Anfang gehört Adam Curtis. Die These des britischen Dokumentarfilmers: Spätestens an der Zeitenwende von 1989 ist uns die Fortschrittsidee abhanden gekommen. Vom Glauben an die Veränderbarkeit der Welt, so Curtis, seien wir zu ihrer reinen Verwaltung übergegangen. Vom Risiko zur Risikovermeidung - und doch sei die Welt danach kein bisschen sicherer geworden.

Ein Bilderreigen aus Archivaufnahmen
Es geht um das Gefühl der Stagnation, das Simon Reynolds für die Musik mit dem Begriff der "Retromania" formuliert: Das Neue fehlt, und damit auch der grundsätzliche Glaube an Wandel jenseits einer Politik der Knappheit. Im Prinzip montiert Curtis die Geschichte erst einmal linear und beginnt in den frühen 60ern, mitten im Zukunftsrausch von gestern. Chruschtschow spricht über den sowjetischen Weg vom Sozialismus zum Kommunismus, in Lower Manhattan soll eine neue Modellstadt entstehen, die englische Pop Art-Künstlerin Pauline Boty tanzt in Swinging London.

Wohin der sowjetische Weg führte, wissen wir. Von der Modellstadt in Manhatten bleiben nur zwei Häuser übrig, das World Trade Center, für den Rest fehlt das Geld. Und Pauline Boty erkrankt an Krebs, verzichtet aber auf eine Behandlung, um das Kind in ihrem Bauch zu retten. Zur Linderung der Schmerzen raucht sie Marihuana. Sie stirbt 1966, das Kind lebt, die Tochter kommt später am Abend selbst zu Wort.

Die Montage, der Tonfall, die Schrifttype Helvetica: Alles signalisiert den Optimismus der Nachkriegsmoderne, und doch schleicht das Scheitern schon laut durch Bild und Ton. Es ist ein Requiem auf den Fortschritt, ein Abgesang auf den Glauben, die Welt mit großen Gesten oder auch nur guter Kunst und noch besserer Laune verändern zu können. Tschüss Zukunft!

Abgesang auf den Fortschrittsglauben
Die Band, wir erinnern uns: viele sind wegen Massive Attack gekommen, tritt erst gar nicht, dann spärlich in Erscheinung. Indes: Die Zurückhaltung wirkt beinahe wieder spektakulär. Wenn der Reggaestar Horace Andy, den Massive Attack vor über 20 Jahren wiederentdeckt hatten, mit seiner Echostimme Sixites-Soul in Zeitlupe covert, wenn Elizabeth Frasier mit ihrem noch immer schönen zerbrechlichen Sopran drei Nummern singt, eine sogar auf Russisch, wenn britische Indie-Klassiker wie "Just Like Honey" von The Jesus & Mary Chain zu einem Fitnessvideo von Jane Fonda laufen, kommentiert die Musik die Bilder wunderschön assoziativ und leicht. "I will be you plastic toy", heißt es einmal in "Just Like Honey", ich werde dein Plastikspielzeug sein. Die Bambifikation der Welt nimmt ihren Lauf, die Verniedlichung von allem und die Reduktion ehemals gesellschaftlicher Projekte auf den Körper des Einzelnen – ein Weg, den die Ex-Kommunistin Fonda und spätere Aerobic Queen beispielhaft gegangen ist.

Dass Massive Attack fast nichts ihres berühmten Materials und schon gar nichts Neues spielen, geht in der Logik des Abends bestens auf. Curtis diagnostiziert den einen "Kokon der Stagnation, aus dem wir nicht herauskommen", wie er mir kurz vor dem Konzert erklärt. Deshalb reflektiert auch die Musik diesen gesellschaftlichen Retrobefund.

Das Bilderrad dreht immer weiter, immer schneller, die These wird immer noch mal erklärt, fast bis zu Überplausibilität. Wie die Logik der Zahlen und der Prognosen und der reinen Errechenbarkeit unseren Alltag regiert und warum sich ohne den Heroismus von todeswilligen Tschernobyl-Arbeitern nichts ändern kann. Beeindruckend bleibt, wie gut Curtis seine These mit konkreten Geschichten und Biografien verknüpfen kann. Das ist unterhaltender, beißender und relevanter Journalismus. Toll auch, wie sich eine Band dieser Liga darauf einlässt und cool im Hintergrund bleibt. Wann geht man schon derart angeregt und mit vielen Fragen aus einem Konzert?

Einer der größten Fragen müsste aber sein: Kann es sein, dass diese Melancholie in der These des ausbleibenden Fortschritts selbst im Denken des Kalten Krieges stecken bleibt? Müsste man einige Entwicklungen nach 1989 in China, in Indien, sicherlich in Südamerika und in Afrika nicht fortschrittlich nennen? Und warum fehlen diese Erdteile in der globalen Erzählung von Curtis und Co? Ab Ende August kann man in Duisburg anlässlich der Ruhrtriennale versuchen, noch mehr Fragen zu stellen und einige Antworten zu finden. Viel mehr kann Kunst nicht wollen.
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