Repräsentative Demokratie und Philosophie

Gegenwart verstehen mit Hannah Arendt

Die Politologin und Philosophin Hannah Arendt
Hannah Arendt © picture alliance / dpa
Eva von Redecker im Gespräch mit Stephanie Rohde · 03.12.2017
Für Hannah Arendt sei Politik ein Akt des gemeinsamen Handelns gewesen, sagt Philosophin Eva von Redecker. Überwiege eine technokratische Politik, begünstige dies eine Krise der Demokratie - als Beispiel nennt Redecker Emmanuel Macron.
Hannah Arendt sei ein scharf beobachtender Mensch gewesen, sagt Eva von Redecker im Gespräch. Ihre eigenen Erfahrungen als Jüdin, ihre Flucht in die USA hätten Arendts Denken tief beeinflusst. Abgelehnt habe die Denkerin stets eine bestimmte Art des akademischen Philosophierens, das erst einmal Theorien aufwendig widerlege, bevor es eigene gedankliche Innovationen entwickeln könne.

Freihändiges Denken

Dafür habe Arendt in ihrer spezifischen historischen Situation auch schlicht keine Zeit gehabt, meint Redecker. Eine feministische Haltung habe Arendt nie eingenommen, weil sie Unterdrückung aufgrund ihres Geschlechts schlicht nicht erlebt oder zumindest nicht wahrgenommen habe. Auch sei Arendt zwischen den feministischen Wellen politisch sozialisiert gewesen. Arendts Philosophie sei klar unkonventionell zu nennen, so Redecker. Kants ästhetische Theorie habe sie auf moralische und politische Fragen übertragen, "freihändiger" lasse sich kaum arbeiten.

Die repräsentative Demokratie ist in Gefahr

Angesprochen auf die derzeitige Krise der Demokratie verweist Redecker darauf, dass Arendt sich bereits in den 1960er-Jahren um die repräsentative Demokratie gesorgt habe. Die Watergate-Affäre stand für die Philosophin für eine erodierende Meinungsbildung, seien doch "Nachrichteneinheiten" im Dienste der Affekthascherei spektakulär skandalisiert worden.
Noch gefährlicher aber, so von Redecker, sei für Arendt ein anderer Aspekt gewesen. Gefährlich werde es nämlich für eine Demokratie nach Arendt immer dann, wenn die Logik des "Herstellens" in die Sphäre des politischen Handelns einbricht. Unter Herstellen habe Arendt einen solitären Akt verstanden: Ein einzelner Mensch fabriziert etwas, zum Beispiel einen Stuhl. Politisch Handeln heißt aber: Zusammen handeln. Aufeinander bezogen sein. Sich wahrnehmen.

Dazu passend eine aktuelle Hörempfehlung: Am 01. Dezember 2017 wurde der der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken an den französischen Philosophieprofessor Étienne Balibar übergeben. Unsere Autorin Johanna Tirnthal hat mit Étienne Balibar gesprochen und skizziert die Grundzüge seines Denkens.
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Genau diese Intersubjektivität des Politischen werde durch die Logik des Herstellens untergraben. Der Effekt dessen sei eine technokratische Politik, die über die Köpfe der Menschen hinweg entscheidet. Ein Beispiel, so von Redecker, sei Emmanuel Macron. Revolutionäres Potenzial sieht von Redecker in der derzeitigen Situation nicht. Für eine Revolution brauche man "Anknüpfungspunkte für eine Neuformierung von Macht" und ein politisches Subjekt. Stattdessen erleben wir, meint von Redecker, grassierendes Ressentiment.

Brexit: Hat das Volk zu viel Macht?

Ein funktionierender öffentlicher Raum sei für Arendt das innerste Funktionsgesetz der Demokratie gewesen. Wenn politisch handeln zusammen handeln heißt, dann braucht es Orte, an denen Menschen sich begegnen. Das soziale Netzwerk sieht von Redecker durchaus als öffentlichen Raum im Arendtschen Sinne, jedoch "mit zu wenig Koordination zum Handeln hin". Es bleibe oft beim bloßen Meinungsaustausch. Moderatorin Stephanie Rohde bringt den Begriff "Filterbubble" ins Spiel und fragt, ob sich nicht nur der digitale, sondern auch der analoge Raum zunehmend segrediere: Während man sich im Netz nur mit "Freunden" unterhält, die die Welt ähnlich sehen, gingen Kinder zunehmend auf Privatschulen, treffen im Fußballclub nur noch auf ihresgleichen. Von Redecker wendet ein, dass zunächst einmal nichts dagegen spreche, dass Menschen Räume aufsuchten, in denen sie anderen mit ähnlichen Hintergründen begegnen. Problematisch werde es erst, wenn nicht alle Menschen die Chance auf Eintritt in bestimmte Räume hätten.
Der politisch handelnde Staatsbürger ist für Arendt die Essenz der Demokratie. Aber gibt es auch, fragt Rohde, die Gefahr, dass dem Volk zu viel Macht zugesprochen wird, wie zum Beispiel der Brexit zeigt? Von Redecker verneint, es sei verfehlt, den schwarzen Peter an das Volk zurückzuspielen, wenn neoliberale Regierungen Menschen in die Frustration treiben. "Zu schauen, wie lang man die Zügel lassen kann", sei daher der falsche Ansatz.
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